Warum man seine essgestörte Identität loswerden muss, um zu heilen

 

Carolyn Costin ist wohl die weltweit bekannteste Spezialistin für die Behandlung von Essstörungen. Sie hat die Begriffe des „Healthy Self versus Eating Disorder Self“ geprägt und entsprechende Behandlungsansätze entwickelt, die darauf abzielen, das gesunde Selbst zu stärken und gleichzeitig die Funktionen einer Essstörung anzuerkennen, anstatt sie auslöschen zu wollen. An dieser Stelle müssten wir nun eigentlich erstmal eine Diskussion darüber führen, was das „Selbst“ denn sein soll, denn es gibt hierzu eine Menge Interpretationen; und vermutlich wird keiner jemals wissen, welche stimmt 😉

Der Einfachheit halber definiere ich diesen Begriff hier mal als den Teil in Euch, der immer unveränderbar da ist. Das Selbst ist Euer Beobachter.  Es ist  grundsätzlich gesund. Krank macht die Interpretation der Beobachtung. „Eating Disorder Self“ ist somit nicht ganz korrekt, sondern der englischen Ausdrucksweise geschuldet. Das ED Self sind letztendlich die Gedanken, die Ihr  um alles rund ums Essen kreiert.

Wenn Ihr schon viele Jahrzehnte mit Eurer Essstörung lebt, könnt Ihr Euch vermutlich nicht mehr vorstellen, überhaupt noch ein gesundes Selbst zu haben. Euer Befinden und Eure täglichen Strukturen sind geprägt vom Diktat einer Stimme, die Euch befielt und steuert.
Vielleicht seid Ihr immer noch an einem Punkt, an dem ihr Eure Essstörung braucht. Ihr hasst sie, weil sie Euch das Leben vermiest, aber sie ist Eure wichtigste Krücke, um mit etwas umzugehen, das Ihr anders nicht bewältigen könntet.
Möglicherweise seid Ihr aber auch längst viele Schritte weiter und hängt fest in diesem „Quasi Recovery“ Status, weil die Macht der Gewohnheiten das essgestörte Denken und Handeln am Laufen hält und Eure Identität so sehr damit verwachsen ist, dass die Angst übermächtig wird bei dem Gedanken, loszulassen.

Man kann Identität beschreiben als eine Mischung aus angeborenen Charaktereigenschaften, Erfahrungen, dem Einfluss der Menschen, die uns umgeben, Glaubensmustern und Emotionen. Sie definiert, wie wir uns selbst wahrnehmen, wie wir denken, dass andere uns sehen, wem wir uns zugehörig fühlen und von wem wir uns unterscheiden. Entgegen der landläufigen Meinung ist sie nicht für immer festgelegt, sondern veränderbar.

Habt Ihr eine Essstörungen oder ein gestörtes Essverhalten, ist Euere Identität damit verbunden, wie Ihr Euch ernährt, was und wie viel Ihr trainiert und mit Euren Körperformen. Ihr seid die oder der Bodybuilder, Veganer, Dünnste, Dickste usw. Auch Eure Familien, Bekannten und Freunde definieren Euch längst durch diese Attribute.

Es ist immer eine große Herausforderung, seine Identität zu ändern oder gar aufzugeben, ganz egal wie schädlich sie auch sein mag. Denn jeder Versuch, daran zu rütteln, erschüttert das komplette innere und äußere Lebenskonstrukt. In der Philosophie nennt man diesen Zustand „ontologischer Schock“. Ontologie ist die Leere vom „Sein“. Sie geht davon aus, dass alles, was ist, nicht vom eigenen Selbst getrennt werden kann, weil es darin eingebettet ist. Wird demgemäß die Wahrnehmung, die man vom eigenen Selbst hat, erschüttert, erleidet man ein Trauma. Das kann durch ein existenziell bedrohliches Ereignis passieren oder eben dadurch, dass man bewusst und absichtlich seine Identität in seinen Grundfesten infrage stellen und aktiv verändern muss, um z.B. von einer Essstörung zu heilen.

Und was wissen wir über unser Gehirn? Es schützt uns vor unserer Angst. Und schon hängen wir fest in Verhaltensweisen, die wir eigentlich längst leid sind, denn sie sind altbekannt und damit vermeintlich sicher. Dieser Mechanismus ist der Hauptgrund dafür, warum es kaum jemand schafft, eine Essstörung ohne kompetente Hilfe von außen loszuwerden. Allein gegen das eigene Gehirn: Das braucht nahezu übermenschliche Kraft und die Fähigkeit, sich von seinen Emotionen einerseits weitestmöglich zu distanzieren, während man sie aber gleichzeitig wahrnehmen und bearbeiten muss. WTF!

Fordert man seine alte Identität heraus, fühlt man sich erst mal, als würde man sich selbst verlieren. Gleichzeitig fürchtet man, von denen gemieden zu werden, die lange bestätigten, wer man war. Auch ich muss mir immer wieder die Frage gefallen lassen, warum um alles in der Welt ich zunehmen möchte oder muss. Ani, die Sportlerin, die Frau mit dem Körper, für den andere viel zahlen würden. Verstehen tut das kaum jemand. Die Menschen sind so besessen von diesem „schlank“ Kult, dass gesundheitliche Aspekte nicht mehr zählen. Macht auch mir die Sache nicht gerade leichter!

Doch um von einer Essstörung zu heilen, muss man ein ausgewogenes Verhältnis zum Essen, zu Sport und zu seinem Körper bekommen und dafür müssen alte und destruktive Glaubenssätze und Verhaltensweisen weichen. Es gibt leider auch hier keinen Königsweg, sonst würde vermutlich niemand länger als einen Tag in einer Essstörung verharren.

Wenn Ihr gerade an einem Punkt seid, der Eure alte Identität herausfordert, und ein Gefühlschaos aus Ärger, Angst, Hoffnungslosigkeit, Verwirrung, Zweifel und Trauer spürt: Alles ganz normal und kein Zeichen dafür, dass Ihr etwas falsch macht. Ihr trauert um die Zeit, die Ihr vergeudet habt, um all das, was Ihr versäumt habt und um die, denen Ihr Sorgen bereitet habt und habt gleichzeitig Angst vor dem unbekannten Danach. Diese Phase gehört dazu. Recovery ist ein Prozess. Man wächst damit und im Laufe der Zeit füllt sich die anfängliche Leere nahezu automatisch mit anderen Dingen.

Nehmt Eure Recovery als Mission, etwas zu finden, das Euch wirklich erfüllt und Menschen in Euer Leben zu holen, die Euch guttun, anstatt mit Euch um die beste Figur und die gesündeste Ernährung zu konkurrieren. Geht auf die Reise zu dem Selbst, das Ihr sein wollt.

Recovery ist nicht Recovery, wenn es sich leicht anfühlt. 😊