Eigentlich bin ich zu gestresst, um einen Artikel zu schreiben, darum schreibe ich einen Artikel. Obwohl ich lieber auf dem Balkon chillen würde, aber chillen, was immer man darunter versteht, bringt mich gerade zumindest innerlich vor die Türe der beschützenden Abteilung einer psychiatrischen Anstalt. Jemand, der nicht so tickt wie ich, kann diese Widersprüche nicht nachvollziehen. Ihr wahrscheinlich schon, schließlich seid Ihr nicht umsonst hier auf diesem Blog. Stichwort Produktivität. Ist ja nicht so, dass dieser Zustand keine Vorteile hätte. Man schafft das dreifache Pensum eines Normalsterblichen in sehr viel kürzerer Zeit und über einen langen Zeitraum, man hat die Energie einer Hochvoltanlange, Hyperfokus sagt Euch sicher auch etwas, Schlaf ist überbewertet, abgesehen davon, dass das Sandmännchen eh Urlaub hat, und Erkältungen kriegen andere. Dass man gleichzeitig emotional nicht mehr reguliert ist, man heult, weil die Zahnpasta auf den Boden getropft ist, die Lunte so kurz ist, dass man explodiert, wenn jemand nur im falschen Modus „hallo“ sagt, man ergo eigentlich körperlich und mental fertig ist und sich das Ganze und man selbst nicht mehr gut anfühlen, steht auf einem anderen Blatt. Übrigens für diejenigen unter Euch, die nicht so fit sind darin, Zustände unterscheiden zu können: Etwas nützlich finden und/oder es brauchen können ist NICHT immer gleichbedeutend mit „es fühlt sich gut an“. Ich sag nur Essen 😊.

Jedenfalls ist dieser hochenergetische Status sowas wie ein Selbstläufer. Hat er einmal begonnen, hat man große Mühe, wieder runterzufahren. Unsereins zumindest. Ich hatte das Relaxen lange geübt, ich war kurz vorm Diplom in blöd Schauen. Und dann brach das familiäre Chaos über mir herein, eine nicht enden wollende Story, und schon war mein Überlebensmodus reaktiviert. Und in einer ver- rückten Situation das Ganze wieder einzufangen, ist quasi zum Scheitern verurteilt. Denn die schwerste und wichtigste aller Skills, die man dafür braucht, ist: Nichts tun und aushalten, nichts zu tun. Nur, wenn man dann mal nur doof in die Welt blicken übt, klingelt das Telefon, weil 5 km weiter wieder der Notstand ausgebrochen ist. Oder das Hundi muss raus, oder ist gelangweilt. Oder die Italiener von Gegenüber streiten lautstark über den Belag ihrer Mittagspizza. Tun sie wirklich!

Es sind aber nicht nur äußere Umstände, die einem in solch eine Verfassung katapultieren. Diejenigen von Euch, die in einer akuten Phase der AN sind, oder die langjährig AN sind und nach wie vor restriktiv essen (egal auf Welche Art und Weise) und vermutlich auch noch viel Sport machen, erhalten diese Hyperenergie aufrecht, mit den gerade genannten Verhaltensweisen: Hungern und Sport. Auch ohne sonstige Trigger. Und ja, Sport , insbesondere Cardio, fühlt sich gut an, gerade wenn man so „drüber“ ist, weil man damit seiner Fight und Flight Reaktion nachgibt. Aber: Die Flucht endet nicht an der 10 k Linie, weil der Stress in Eurem Kopf und in Eurem Körper weiter geht. Wenn Ihr dann auch noch macht, was ich weiß, dass Ihr macht, nämlich nüchtern mit einer Tasse schwarzem Kaffee im System auf die Joggingrunde gehen, habt Ihr Euer Cortisol in schwindelerregende Höhen gebeamt. Ja, Ihr habt Videos gesehen von Dr. Berg und Co., die intermittierendes Fasten und No- Carb als Allheilmittel sehen und sagen, nüchtern trainieren macht einen göttlichen Körper. Nein, sorry, aber das Einzige, was hier Wahrheit ist, ist, dass die alle viel Geld verdienen mit ihren Thesen, weil es eine Menge Leute da draußen gibt, die darauf aufspringen, weil sie ziemlich gestört sind bezüglich Sport, Körperbild und Ernährung. Kann man nicht schönreden. Tatsächlich fahrt Ihr mit dieser Methode garantiert Euren Stoffwechsel noch weiter runter, als er eh schon ist und ein Verzicht auf Kohlenhydrate macht alles noch schlimmer. Ich wiederhole: Kohlenhydrate sind unverzichtbar für ein gesundes Gehirn und einen gesunden Körper und für ein ausgeglichenes Hormonsystem. Insbesondere für Frauen.

Der AN – Cortisol- Zirkel:

Das Adrenalin macht den Anfang und das Cortisol besorgt den Rest. Cortisol wird nicht umsonst „Stresshormon“ genannt. Es steigt, wenn wir Stress haben. Stress durch tatsächlich belastende äußere Umstände, durch unsere eigenen abwertenden Gedanken, die unser Hirn für Wahrheiten hält, durch bestimmte Verhaltensweisen, durch Perfektionismus, durch zu wenig Essen, oder das Falsche, und durch zu viel und falsche Bewegung. Meist treffen alle Faktoren zu.

Je länger diese Zustände anhalten, umso weniger ist der Körper in der Lage, das Cortisol wieder einzufangen und auf normale Werte zurückzuführen. Mit fatalen Konsequenzen, insbesondere wenn Stress durch chronische Mangelernährung hervorgerufen wird oder sich selbige zu anderen Stressfaktoren dazugesellt. Nichts ist für das Gehirn bedrohlicher als ein Mangel an Energie. Und Bedrohung = Cortisol- Spike. Ein hoher Spiegel dieses Stresshormons führt zu all dem, was jede AN kennt: Überdreht trotz Müdigkeit, nach einem mentalen Hoch kommt das mentale Tief, nach Klarheit kommt Brainfog, die Knochensubstanz schwindet noch schneller, der Blutzucker gerät außer Kontrolle (postprandiale Hyperglykämie bei AN), der Puls und der Blutdruck auch, das Progesteron fällt, die Periode bleibt aus. Und jetzt wird es richtig crazy. Normalerweise nimmt Mensch von Cortisol zu. Dass man „normalerweise“ komplett vergessen kann, wenn es um AN geht, haben wir glaube ich alle schon erkannt: AN nimmt ab, wenn das Cortisol aka der Stress steigt. Nicht zuletzt wegen dem Appetitverlust, sofern der überhaupt noch existiert. Aber auch, weil dieser Stoffwechsel halt so tickt. Genau erklären kann ich das jetzt nicht. Und ich bin zu gestresst, um es nachzulesen 😉. Allerdings ist da oft trotz Untergewicht dieses verhasste Bäuchlein, DAS kommt meist vom Cortisol. Am Bauch sind die meisten Rezeptoren für Fett und Fetteinlagerungen werden begünstigt durch das Stresshormon. Nur: „Der Bauch muss weg“, sagt die AN. Und wie macht man das? Durch noch weniger essen und noch mehr Sport. Und so schwindet alles bis auf das letzte Härchen, nur der Bauch, der bleibt. Weil das Cortisol noch mehr steigt. Das ist das, was ich AN- Corisol- Zirkel nenne.

Was übrigens kaum einer jemals erwähnt: Recovery, also der Weg aus der AN, ist Ultrastress. Alle Ängste werden wahr, man muss tun, was man oft Jahre lang tunlichst vermieden hat und lassen, was man mehrmals täglich praktiziert hat und was doch so schön beruhigen konnte. Vermutlich gibt es kaum eine Zeit, in der das Cortisol so hoch ist, wie in der Recovery Zeit. Deshalb ist es so wichtig, in dieser Lebensphase alles zu vermeiden, was den Stress erhöht. Es ist ok, Schule und Uni hinten anzustellen. Es ist wichtig, Ausruhen zu üben, es ist erlaubt, „nur“ Zeitschriften zu lesen, statt Fachliteratur und in der Anfangsphase muss man auch nicht auf Familienfeiern, wenn sie sich überfordernd anfühlen.

Und jetzt noch ein paar Tipps, die helfen können, das Cortisol runterzufahren und mit Stress besser umzugehen:

Naahhgg, Ihr wollt es nicht lesen: Essen. Genug. Wenn Ihr Euer gesundes Gewicht wieder habt, dann achtet darauf, nicht mit der Nahrungsaufnahme zu spielen. Esst gleichmäßig viel, nicht einen Tag viel und den anderen kaum etwas. Esst bunt gemischt. Weg von den Verboten. Kohlenhydrate nicht limitieren, im Gegenteil. Sie sind für Euch mindestens so wichtig wie Proteine. Unsere Körper lieben Gleichmäßigkeit. Gleichmäßigkeit ist übrigens nicht zu verwechseln mit Zwang, gell! Und fahrt Euch runter, bevor Ihr anfangt zu essen. Wenn Ihr im Stressmodus versucht, zu essen, macht Essen (noch mehr) Angst. Schon gemerkt?

Wenn Sport dann bitte Krafttraining. Je weniger Cardio umso besser. Spazierengehen, mal radeln, mal schwimmen und Alltagsbewegung reichen. Wer Yoga mag, bitteschön. Kein HIT, kein Spinning, nix, das den Puls exorbitant hoch treibt. Auch post- AN gilt: weniger ist mehr. Cortisol ist ein potenter Rückfalltrigger!

Achtet auf Eure Gedanken. Eure Gedanken machen viel Stress. Das gilt auch für mich, ich bin Queen of Worst Case Szenarios.

Im Moment sein. Ich habe mir sagen lassen, das hilft. Ihr Lieben, wenn Ihr das hinbekommt, sagt mir Euer Geheimnis. Ich bin die, die in der Natur rumläuft und irgendwann wieder daheim ist, bestenfalls mit einem gelösten Problem und meinem Hund, der nirgendwo unbemerkt verloren gegangen ist, aber ohne wirklich wahrgenommen zu haben, was um mich herum so grünt und blüht. Ich konnte das mit dem „present moment“ noch nie.

Schlafen. Schlafen ist super. Mittagschlaf, abends rechtzeitig ins Bett gehen. Wem es hilft, nehme Melatonin Spray.

Keine aufregenden Dinge am Abend machen, aber ich glaube, darum muss ich mich bei Euch nicht sorgen. Keine Actionfilme gucken.

Weg von Social Media vor dem Schlafengehen und auch sonst. Vergleichen ist purer Stress und nach dem Symptom googeln, dass da an Eurem kleinen Zeh aufgepoppt ist und laut Suchmaschine sicher tödlich enden wird, ist eine denkbar schlechte Idee.

Haustiere streicheln. Oder den kleinen Bruder.

Atmen. Und zwar leicht. Also nicht tief ein und tief aus, sondern ganz normal easy going fünf ein fünf aus. Das bringt ganz schnell Ruhe ins System.

Macht eine „not to do” Liste, heißt, aufschreiben, was Ihr lassen wollt, anstatt was Ihr tun wollt. Wirkt oft Wunder, wenn man zu den eher restriktiven Menschen gehört. Weglassen geht ja irgendwie immer!

Und zu guter Letzt: Eiskalt duschen. Finde ich persönlich richtig übel. Aber wirkt. Das fährt den Stress erst hoch, danach ist man aber relaxed und das hält auch eine Weile an. Hilft auch bei emotionalen Entgleisungen, also kurz vor oder nach einem Meltdown. Vor wäre optimal.

Zum Schluss noch ein Satz für alle FBT Eltern: Wenn es gar nicht vorwärts gehen mag bei Euren Kindern, und/oder die Periode einfach nicht kommen mag, dann schaut mal deren Stressfaktoren an. Haben sie genug Zeit und Ruhe für Recovery? Auch körperliche Ruhe! Ist die Schule schwierig, die Mitschüler, die Vergleiche. Dann macht Schulpause. Wie ist Euer Familienleben, wie gestresst seid Ihr selbst, nicht zuletzt durch FBT. Nehmt Euch Zeit, um Euren eigenen Cortisolspiegel runterzufahren. Wie ist Euer Erwartungsdruck an das Kind? Sind Eure Vorstellungen für Euer Kind realistisch oder seid Ihr im Vergleich mit anderen Eltern. Denkt daran, jeder Mensch, jedes Kind ist einzigartig. Es gibt keine Methode, auch keinen Königsweg innerhalb einer Methode, die/der für alle passt.

Einer der wichtigsten Faktoren in der Recovery Zeit ist, zu lernen, mit Stress umzugehen, auch emotional. Das ist substanziell für eine tragfähige, langfristige Gesundheit. Denn Stress, ein hoher Cortisolspiegel, der AN- Cortisol- Zirkel, birgt die größte Gefahr für einen meinst schleichenden und deshalb umso gefährlicheren Rückfall.