Der Stellenwert der Selbsterfahrung im Behandlungsprozess von Essstörungen ist so offensichtlich und doch so unterrepräsentiert. Ärzte, Therapeuten, Coaches, jedermann/frau kann sich ungefähr vorstellen, wie es sich anfühlt, depressiv zu sein, oder zwanghaft oder von einer Angststörung geplagt zu werden. Selbst wahnhafte Erkrankungen sind den meisten Menschen nicht so fern, wie Essstörungen, insbesondere Anorexie. Diese Erkrankung ist selbst denjenigen ein Rätsel, die sich selbst immer wieder im Jungel der Gesundheitsindustrie verlaufen.

Wie kann ein Mensch sich zu Tode hungern und nicht „einfach“ wieder essen, bevor alles zu spät ist?

Wie kann es sein, dass jemand buchstäblich auf Knochen und ohne gegessen zu haben Marathons laufen kann?

Warum all diese Lügen und das Versteckspiel?

Was ist das Problem mit der Waage?

Und vor allem: Warum sehen diese Menschen nicht, wie sie aussehen und wo sie stehen?

Man kann viel lernen über Essstörungen, man kann Erfahrungen sammeln durch jahrelange Praxis in der Arbeit mit Betroffenen. Aber wirklich wissen, was in diesen Menschen vorgeht, geschweige denn, es nachfühlen können, das gelingt nur, wenn man diese Krankheit selbst hatte. Und: Genau dieses Verstehen und Verständnis sind Voraussetzungen für eine vertrauensvolle Beziehung, in der die Masken fallen können, Betroffene das Schamgefühl zumindest kommunizieren und teilen können, sie keine Angst haben müssen vor Zurückweisung und die AN keine Chance hat, das letzte Wort zu haben.

Im Bereich der Erforschung der Erkrankungen selbst hat man zum Glück schon seit einer Weile verstanden, wie wertvoll das Wissen der Selbstbetroffenen ist. Selbsterleben und Selbsterfahrung werden hier zumindest mitgedacht. Doch leider ist das Behandlungssystem und das Krankheitswissen in den meisten europäischen Ländern nach wie vor so alteingesessen, dass wir froh sein müssen, wenn wir Ärzte, Therapeuten oder Kliniken finden, die zumindest halbwegs nach den neuesten Erkenntnissen behandeln, oder dafür offen sind. Ehemalige Patienten, die sich zu Coaches ausbilden lassen und ihren LeidensgenossInnen alle erdenkliche Unterstützung anbieten, werden von Klinikern ebenso wenig angehört und ernst genommen, wie die PatientInnen selbst. Deren Bedürfnisse und Gedanken werden grundsätzlich der Essstörung zugeschrieben, und ehemalige Anorexie Patienten gibt es nicht, da die Krankheit nach wie vor den Ruf hat, nicht heilbar zu sein.

Richtet man seinen Blick jedoch z.B. nach USA, sieht man, wie erfolgreich es sein kann, PatientInnen ernst zu nehmen und anzuhören. Nur sie können in anderen Betroffenen identifizieren, wo das gesunde Selbst zu hören und zu sehen ist, und wo die Essstörung. Nur sie wissen, wie sich Recovery wirklich anfühlt, wie schwer das sein kann, und wie man über die schlimmsten Hürden kommt. In USA (u.a.) hat es sich somit bereits etabliert, ehemalige PatientInnen, die sich zu Coaches, Therapeuten oder Ernährungsspezialisten ausbilden lassen, in Behandlungsprozesse einzubinden, sie zu einem Teil des Teams zu machen. Mit großem Erfolg.

Doch im Bereich Essstörung ausgebildete, ernstzunehmende Coaches gibt es im deutschsprachigen Raum zu wenige, und unser Gesundheitssystem ist nicht darauf ausgelegt, im Verbund, im Team zu arbeiten. Es ist schon fast ein Wunder, wenn sich Ärzte bereit erklären, mit Therapeuten zu kooperieren, und umgekehrt. Coaches mit Selbsterfahrung sind offensichtlich der Therapeuten größte Konkurrenz. Ist ein Coach im Spiel, ist der Therapeut raus. Und zwangsläufig auch umgekehrt. Somit stehen Coaches hier oft einer großen Verantwortung gegenüber und arbeiten mangels Kooperation (und Ressourcen) mit ihren Coachees an Themen, die eigentlich in therapeutische Hand gehören würden, die aber bearbeitet werden müssen, um Heilung möglich zu machen.

Aufgrund einer wachsenden Evidenz des Erfolges aus Ländern, die das kooperative Modell bereits etabliert haben, wird es hoffentlich auch in Europa zukünftig unabdingbar sein, das alte „Wissen“ über Heilung an sich und über den Weg dorthin zu überdenken, und neue Modelle der Behandlung einzuführen. Dafür ist es notwendig, Möglichkeiten zur Umsetzung und Bewertung dieser Ansätze weiterhin intensiv zu erforschen. Beweisbarkeit des Erfolges ist von entscheidender Bedeutung, um Fachleute und deren Behandlungsperspektiven- und Methoden voranzutreiben und klinische Perspektiven mit einem auf gelebter Erfahrung basierenden Verständnis der Genesung zu integrieren.