Anorexie ist gekennzeichnet durch die Angst vor Gewichtszunahme und, zumindest auf den ersten Blick, vor den Lebensmitteln, die dazu führen könnten. Warum aber können dann manche problemlos Schokolade essen, haben aber Angst vor Apfelsaft? Und was bedeutet problemlos im Falle einer AN?

Anorexie scheint nicht logisch, wenn man die Verhaltensweisen Betroffener von außen betrachtet. Doch je mehr man über diese Erkrankung weiß, umso mehr Sinn macht, was sie tun oder eben nicht tun.

Ein Mythos über AN lautet: Jemand, der das hat, isst nichts und trinkt nur Wasser.

Falsch. Zumindest der Teil mit dem Essen. AN essen sogar in der akuten Phase in der Regel sehr wohl, aber nur unter bestimmten Bedingungen, die ihre sogenannte „last supper mentality“ ihnen vorgibt.

  • Ausgesuchte Lebensmittel in besonderer Anordnung auf dem Stuhl an der langen Seite des Tisches um genau 19 Uhr während die Simsons im Fernsehen laufen. Wenn die Simsons ausfallen, weil Fußball läuft, ist das allein schon ein Grund für einen Meltdown. Oder dafür, auf diese Mahlzeit zu verzichten.
  • Nur eine Menge von x Kalorien, weniger ok, mehr ganz sicher nicht.
  • Nicht vor 12 Uhr Mittag und dann nur den Salat der Frischeabteilung von Edeka ohne Käse. Oder vier Brokkoli -Röschen.
  • Eine Mahlzeit muss mindestens eine halbe Stunde dauern, länger ist ok, kürzer nicht.
  • Ein Stück Schoki um 15 Uhr, aber nur zuhause auf dem Bett beim Podcast hören.
  • Reis mit Gemüse ja, aber erst nach der vierten Stunde Sport. Man muss sich das Ganze schließlich erstmal verdienen.
  • Flüssige Kalorien sind für nahezu alle des Todes und werden entsprechend vermieden. Wenn es denn sein muss, dann vielleicht mal ein Glas Schorle. Aber nur, wenn es nicht anders geht und ehrlich gesagt geht es immer anders. Man muss sich nur zu helfen wissen. Und eines ist sicher: AN wissen sich zu helfen.

Auch Behandlung ändert an diesem Mindset meist erstmal nur sehr wenig. In Kliniken wird zwar aufgefüttert, doch die AN Regeln dürfen bleiben, ganz nach dem Motto: Hauptsache der Mensch isst überhaupt, nimmt bestenfalls ein bisschen zu und es herrscht Ruhe am Esstisch. Getränke haben die Therapeuten dort oft gar nicht auf dem Schirm. Schließlich ist AN eine Essstörung und somit ist es nicht so wichtig, ob Betroffene kalorienhaltige Sachen angstfrei trinken können oder nicht. Auch im FBT Prozess besteht die Gefahr, dass sich Eltern und Therapeuten auf das Essen fokussieren und die Getränke schlichtweg vergessen.

Regel Nummer 1: Je mehr AN Glaubenssätze und entsprechende Verhaltensweisen erlaubt sind, weil sie vielleicht gar nicht erkannt werden, umso problemloser sieht Recovery aus.

Regel Nummer 2: Umso weniger wirkungsvoll ist der Prozess.

Regel Nummer 3: Alle AN Anteile, die bleiben (auch die, die nicht unmittelbar mit Essen und Trinken zu tun haben), weil sie nicht per Exposition und Übung der „Opposite Actions“ überschrieben werden, machen „fully recovered“ nicht nur schwerer und weniger wahrscheinlich, sondern unmöglich. 

Jemand, der die Angst vor flüssigen Kalorien und entsprechende andere gesellschaftskompatible und damit unauffällige AN- Muster nicht löscht, wird nicht ganz gesund.

Doch was steckt hinter dieser Angst vor Kalorien in Getränken?

Das sogenannte „Food Scarcity Mindset“, das eigentlich „Food and Drinks Scarcity Mindset“ heißen müsste, weil er sonst genauso in die Irre führt, wie der Begriff ESSstörung.

Manche sagen, das sei gelerntes Verhalten, weil man sich aufgrund irgendwelcher Persönlichkeitseigenschaften, Selbstwertthemen, Traumata u.a. nichts gönnen kann, sich nichts erlaubt und sich somit einen Mangel vorlebt.

Diesen Ansatz halte ich für falsch. Für mich ist das Food Scarcity Mindset eine unmittelbare Folge des Energiedefizites, der Mangelernährung. Es erhält sich dann im Laufe der Erkrankung durch das Verhalten, selbst wenn das Gewicht wieder passt. Wenn das Gehirn einen Mangel an Energie auch nur erahnt, sei es, weil die Kalorienaufnahme tatsächlich zu niedrig ist oder weil sein Besitzer nicht isst und trinkt, was und wann er tatsächlich will, dann wird jede Mahlzeit zur Henkersmahlzeit:

  • Essen muss zelebriert werden, abends, wenn niemand mehr stört und das Tagewerk getan ist.
  • Man muss sich Essen erarbeiten
  • Es muss heimlich und unbeobachtet gegessen werden, die Konkurrenz ist schließlich groß, wenn nicht genug von allem da ist. Denkt das auf Mangel konditionierte Gehirn.
  • Essen muss gesellschaftlich kompatibel sein, denn wer etwas isst, das andere gerne hätten, ist in Gefahr.
  • Es muss laaaaannngsam genossen werden, damit man lange etwas davon hat. Wer weiß, wann es wieder etwas gibt.
  • Summa summarum: Essen muss perfekt sein. Und Trinken auch.

Während des fortschreitenden Recovery Prozesses kann man meist ein neues Phänomen beobachten: Es wird nach einer Zeit der Exposition wieder gegessen, auch hochkalorische Dinge. Auch nach wie vor angstbesetzte Dinge wie z.B. Fleisch oder ein Glas O- Saft beim Frühstück. ABER NUR wenn, siehe oben, die im Behandlungsverlauf aufgeweichten aber immer noch rigiden Umstände entsprechend passen. Wenn nicht, steigt der Angstpegel wieder extrem, obwohl dasselbe auf dem Teller liegt oder im Glas ist, wie sonst auch.

Konkret sieht das dann so aus:

  • Fleisch ja, aber nur an bestimmten Tagen und zuhause.
  • Snack ja, aber nicht im Gehen oder zwischen Tür und Angel.
  • Hochkalorische Nahrung ok, aber nach wie vor nur zu bestimmten Zeiten und Bedingungen.
  • Essen gehen/gemeinsam essen ist ok, sofern nur die Familie am Tisch sitzt.
  • Es werden auch irgendwann Kalorien getrunken, vor allem, wenn man im FBT Prozess nicht drum rumkommt. Dann geht auch mal ein Milchshake, aber nur nach dem Spaziergang. Kakao ist ok als Snack. Aber Limo: auf keinen Fall!

Das ist nicht logisch, oder?

Doch. Weil, gemäß den Gesetzen des AN-typischen Food Scarcity Mindset z.B. Kakao ein nützliches Getränk ist und Limo eine überflüssige Zuckerquelle, die man sich sparen kann.

Das Food Scarcity Mindset sagt: Wenn schon essen und trinken, dann muss das Sinn machen. Diesen Sinn definiert die AN. Und nach der ist klar: Limo hat keinen Mehrwert, es lohnt sich nicht.

Was man dann so von Betroffenen hört ist: „Ich mochte Limo/Saft (o.a.) noch nie. War mir immer schon zu süß“

Hinter solchen Aussagen steckt tatsächlich oft eher die Angst davor, dass diese gemäß AN unnützen Getränke schmecken könnten und man sie nie mehr missen möchte, wenn man einmal zugelassen hat, sie auch nur zu probieren.

Wenn Ihr Euch oder Eure Kinder hier wiederfindet, dann ist das auf Mangel ausgerichtete Gehirn noch nicht geheilt. Auch dann nicht, wenn alles Essen geht, aber Trinken schwerfällt.

Esst und trinkt Eure Snacks unter für Euch ungünstigen Bedingungen. An der Bushaltestelle. Zwischen zwei Vorlesungen im Gehen. Auf dem Weg von der Schule nach Hause. Meinetwegen in der Badewanne oder unter der Dusche. Wählt eine Zwischenmahlzeit, die nicht perfekt ist. Esst Euer Mittagessen in der Mensa. Trinkt eine Limo dazu. Trinkt ein Getränkt mit Kalorien im Coffee Shop oder wo auch immer. Macht die Dinge anders als die AN sagt und lasst Flexibilität Selbstverständlichkeit werden! Das gilt auch für Autisten, sofern Ihr vor der AN flexibel essen und trinken konntet. Wenn nicht, schadet es auch nicht, daran zu üben.

Und damit zum einem weiteren wichtigen Punkt:

Geheilt bedeutet nicht, immer angstfrei zu sein, generell oder anfangs auch noch beim Essen und Trinken. Es heißt nicht: Ihr habt nie wieder AN Gedanken. 

Recovery bedeutet: ich kann entscheiden. Entscheiden für oder gegen die AN.

Wenn Ihr entscheiden könnt, eine Limo mit Zucker zu trinken, ist es irgendwann auch ok, wenn Ihr zum Essen nur Wasser trinkt, weil Ihr nicht süß und salzig mischen wollt. Wenn es aber mal nur Limo gibt zum Abendbrot, dann halt Limo, ohne Angst, ohne einen Glaubenssatz, der aufpoppt, sobald Ihr die Flasche seht.

Wenn Ihr in jeder Situation Fleisch essen könnt, auch wenn es erstmal noch schwer ist, dann ist es paar Jahre nach vollständiger Heilung auch wieder ok, vegetarisch zu leben, wenn es Euch vornehmlich um das Tierwohl geht. Dann könnt Ihr auch mal ohne Panikattacke bei den Großeltern Fleisch essen, weil Oma vegetarisch nicht versteht.

Wenn Ihr frei wählen könnt, ob Salat oder Nudeln, heißt das nicht, Ihr seid noch AN, wenn Ihr den Salat wählt, weil es 30 ° hat und Ihr keine Lust auf Pasta habt.

AN beginnt mit einem Energiedefizit, das dem Gehirn vermittelt, es gibt nicht genug zu essen. Das (Food) Scarcity Mindset ist die Folge. Betroffene betrachten jede Mahlzeit so, als wäre es ihre Henkersmahlzeit. Sie muss perfekt sein und sie gehört ihnen allein. Für Getränke gilt dasselbe. Wasser mit Zucker und Geschmack ist nicht perfekt und damit überflüssig. Und die AN findet jeden Grund, das plausibel zu erklären. Weil sich Essstörungen per Begriff auf das Essen fokussieren, halten es Ärzte und Therapeuten oft nicht für notwendig, Getränke entsprechend zu exponieren. Und wundern sich über die niedrige Heilungs- und die hohe Rückfallquote.

Folgt Euren gesunden Anteilen. Gebt Euch selbst die Erlaubnis, zu jeder Zeit alles zu essen, das Euch zur Verfügung steht. Überwindet die Angst vor flüssigen Kalorien und beweist Eurem Gehirn, dass keine Hungersnot herrscht.

Recovered bedeutet: Ich entscheide frei und ohne Angst. Ich registriere die AN zwar, wenn sie da ist, aber ich reagiere nicht mehr auf das, was sie sagt. Bis sie irgendwann aufgibt und die Klappe hält!