Erlebnisse, Ergebnisse und Erkenntnisse der „Minnesota Semi Starvation Study“

Warum Energiedefizit den Menschen verändert

 

Energiedefizit verändert den Menschen, weil es unseren Körper  und unser Gehirn schwächt – und damit unser Selbst.

Was heißt eigentlich „Energiedefizit“?

Eine bestimmte Menge an Kalorien brauchen wir nur dafür, dass Herz, Gehirn, Nervensystem, Leber, Lunge und Nieren richtig arbeiten. Diesen Verbrauch hätten wir also auch dann, wenn wir im Koma liegen würden. Das ist der Grundumsatz. Das, was dazu kommt, weil wir ja nicht nur still liegen, nennt man Energieumsatz. Beides zusammen ergibt unseren individuellen Energiebedarf.

Du bist also im kalorischen Energiedefizit, wenn Du weniger isst, als Dein Körper braucht.

Wieviel das ist, hängt nicht nur ab von Deiner Größe, Deinem Alter und Deinem Bewegungsverhalten. Auch Deine Gene beeinflussen Deinen Bedarf. Sie geben vor, mit welchem Gewicht Dein Körper am besten funktioniert. Das ist Dein Setpoint. Wenn Du essen kannst, bis Du satt bist, ohne viel zuzunehmen (+/- 2-3 kg Schwankung ist normal), hast Du Dein Setpoint Gewicht. Wenn Du mal abnimmst, sorgt normalerweise Dein Gehirn dafür, dass Du bald wieder so viel isst, dass Dein Gewicht zum Setpoint zurückkehrt. Das merkst Du daran, dass Du nach einer Abnehmphase mehr Hunger oder mehr Appetit hast und so lange futterst, bis Du wieder bei (mindestens) dem Gewicht bist, das Dein Körper haben will. Leider sind die meisten von uns wahre Experten darin, dieses Gleichgewicht zu stören. Ich glaube, viele wissen gar nicht genau, in welchem Bereich ihr genetisches Gewicht liegt. Warum, erkläre ich in einem gesonderten Artikel.

Die Ergebnisse der Minnesota Semi Starvation Study  sind bis heute wegweisend für das Verständnis der mentalen und physischen Veränderungen eines Menschen im Energiedefizit.

 

Ein paar Erkenntnisse daraus vorweg:

  • Alle körperlichen und psychischen Veränderungen der Männer wurden einzig und allein durch das Hungern selbst hervorgerufen. Nur die Limitierung der Kalorien brachte sie an den Rand des Wahnsinns. Alle waren zu Beginn des Experimentes kern gesund. Hungern war nicht die Folge eines psychisch belastenden Lebensereignisses. Sie waren hervorragend betreut und sie wussten, dass und wann die Studie zu Ende sein würde.
  • Kaloriendefizit unterhalb des Grundumsatzes führt in kurzer Zeit zu schwerwiegenden körperlichen und psychischen Problemen.
    Die Probanden bekamen Mahlzeiten in einem Kalorienbereich von etwas über 1500 Kcal. Der Grundumsatz eines ca. 30 Jahre alten Mannes liegt bei ca. 1700 Kcal.
  • Humans can tolerate a weight loss of about 5 %-10% of their body weight with relatively little functional disorganization” (Keys et al 1950 p 18).
    5-10% Verlust des Ausgangsgewichtes verkraftet der Mensch noch relative problemlos.

    Danach beginnt der Hungerzustand, mit all seinen negativen Auswirkungen, egal ob wegen einer Diät, einer Fastenkur oder einer Essstörung zu wenig Energie aufgenommen wird.

Die kritische Phase der Studie, die Hungerphase, begann am 12 Februar 1945. 36 Männer trafen sich im Speisesaal zum Frühstück, zu einer von zwei täglichen, kargen Mahlzeiten. Auf ihren Tellern lagen zwei Scheiben Toast, eine Portion Kartoffeln, eine Portion Gelee und eine winzige Menge Marmelade. Dazu gab es ein kleines Glas Milch. Das Abendessen fiel nicht abwechslungsreicher aus. Die nächsten sechs Monate bekamen sie jeden Tag dieselben einseitigen Gerichte.

Sie wurden regelmäßig und gründlich untersucht und befragt. Es dauerte nicht lange, bis ihr Gewicht sank, und es sank rapide. Ca. 16 -20 Kilo verloren jeder von ihnen innerhalb der nächsten 24 Wochen. Ihre Körper waren ausgezehrt und knochig. Sie glichen den Menschen in Konzentrationslagern. Sie verloren ca. 10,3 kg Gewebe, davon einen erheblichen Teil Knochensubstanz (Demineralisation) und Körperfett, sowohl in der Unterhaut als auch das schützende Fett um die Organe. Sitzen tat weh, da das Fleisch am Hintern fehlte.

Die Männer wurden immer schwächer, sie waren schwindlig und kippten um, vor allem beim Lagewechsel vom Sitzen oder Liegen, zum Stehen. Die Stoffwechselrate sank um ca. 40 %. Das Herz schrumpfte, der Blutdruck fiel. Die Herzvariabilität nahm ab, Herzrhythmusstörungen nahmen zu. Der Ruhepuls fiel von normal ca. 60 auf ca. 30- 40 Schläge, bei einem der Männer sank der Puls auf gerade mal 28 Schläge/Minute. Die Reflexe nahmen ab. 10 Männer hatten einen gering ausgeprägten Kniesehnenreflex.  Die Körpertemperatur sank von 37 ° C auf ca. 35,4 °C. Auch das Nervensystem blieb nicht verschont von den Folgen des Hungerns. Die Männer wurden lärmempfindlich, vermutlich wegen der abnehmenden Fettschicht im Ohr.

Die Lippen und Extremitäten (Hände und Füße) verfärbten sich bläulich (Akrozyanose). Die Gesichtsfarbe nahm eine ungesunde, graue, fahle Tönung an, die Augen erschienen groß, die Augäpfel waren auffallend weiß.

Ihre Haut war trocken, kalt und rissig. Ihre Nägel brachen ab und die Haare fielen aus. Die Kälteempfindlichkeit nahm zu, die Männer hatten permanent Gänsehaut und verlangten sogar im Hochsommer nach zusätzlichen Decken. Die Hitzeempfindlichkeit dagegen nahm ab. Stundenlang lagen sie in der prallen Sonne, um sich aufzuwärmen.

Das Blutvolumen blieb ansatzweise gleich, die Blutzusammensetzung änderte sich jedoch. Die Abwehrzellen reduzierten sich, Infekte und schlecht heilende Wunden wurden häufiger. Ein Teil der roten Blutkörperchen verringerte sich ebenfalls, die Teilnehmer wurden blutarm.

Die Männer hatten ein starkes Verlangen nach Salz. Der Anteil an Körperwasser stieg massiv an, so dass der Gewichtsverlust scheinbar stagnierte. Es bildeten sich Ödeme in einem Ausmaß von ca. 6,5 kg Gewicht. Das passiert, wenn zu wenig Eiweiß gegessen wird und das Transportprotein Albumin fehlt. So kann die im Blut enthaltene Flüssigkeit nicht mehr ausreichend gebunden werden und das Wasser lagert sich im Gewebe ein.

 „At the end of starvation the extra-cellular fluid volume averaged about 34% of the body weight […]. In terms of weight this excess fluid represents a correction of about 6.5 kg.”

Die Sauerstoffaufnahme sank und damit auch die Ausdauer.

 „The brief endurance capacity for brief effort was shown to be reduced strikingly in tests involving running on the treadmill to complete exhaustion. Compared with an initial average endurance of 245 seconds, the final average was only 51.9 seconds.”

 Aufgrund der Muskelatrophie (Muskelschwund) nahm auch die Kraft um ca. 30 % ab. Muskelkrämpfe waren häufig. Spazieren gehen war kein Vergnügen mehr, geschweige denn, auf dem Laufband zu laufen oder Treppen zu steigen. Sie sparten sich jede Bewegung, die nicht unbedingt sein musste. Laufbandtraining war für die meisten die wohl schlimmste Qual des Experimentes. Es wird aber auch von einigen berichtet, die einen extremen Bewegungsdrang entwickelten:

 “[…] some men exercised deliberately at times. Some of them attempted to lose weight by driving themselves through periods of excessive energy in order to either obtain increased bread ration […] or to avoid reduction in rations”.

Keiner hatte mehr Lust auf Sex.

„I am one of about 3 or 4 who still go out with girls. I fell in love with a girl during the control period but I see her only occasionally now. It is almost too much trouble to see her even when she visits me in the lab. It requires effort to hold her hand. Entertainment must be tame. If we see a show the most interesting part of it is contained in scenes where people are eating.”

Die Spermienqualität wurde so schlecht, dass sie zeugungsunfähig gewesen wären, hätten sie zu dieser Zeit Nachwuchs geplant.

Besonders eindrucksvoll waren die psychischen Veränderungen.

Die Männer bemerkten sehr schnell, dass sie jegliche Energie, jede Motivation und jedes Interesse verloren.

Die eigentlich so verträglichen Jungens wurden aggressiv und fingen an, wegen Kleinigkeiten zu streiten. Sie ertrugen die Gegenwart der anderen kaum noch.

Sie waren von dem Gedanken an Essen besessen. Die kleinen Mengen an Nahrung, die sie bekamen, wurden regelrecht zelebriert. Sie behielten alles so lange wie möglich im Mund und schleckten ihre Teller ab. Manche sortierten ihr Essen auf bestimmte Weise, viele aßen sehr langsam oder schlangen in Lichtgeschwindigkeit. Andere streckten ihre Mahlzeiten zusätzlich mit Wasser und sie spielten mit dem, was auf ihren Tellern lag, wie kleine Kinder.  Ihre mentalen Fähigkeiten blieben weitgehend erhalten, aber die Konzentrationsfähigkeit nahm ab. Der Gedanke ans Essen war übermächtig.

“I don´t know many other things in my life that I looked forward to being over with any more than this experiment. And it wasn´t so much […] because of the physical discomfort, but because it made food the most important thing in one´s life.” (Harold Blickenstaff)

Carlyle Frederick, einer der Männer, sammelte über 100 Kochbücher und konnte nicht aufhören, darin zu lesen. Es wird erzählt, dass er sogar nachts dafür aufstand. Auch die anderen waren fasziniert von Bildern und Beschreibungen von Nahrung. Sie stahlen Essen aus Mülltonnen und horteten das, was sie eventuell noch essen könnten. Sie kauten bis zu 40 Packungen Kaugummi pro Mann und Tag und 15 Tassen Kaffee waren durchaus normal. Das ging gar nicht, also wurde rationiert auf zwei Päckchen Gums und ein Minimum von 9 Tassen Kaffee.

Einige begannen, an ihren Nägeln zu kauen, Körperpflege war nicht mehr wichtig.

Die Stimmung wechselte zwischen depressiv und manisch. Zwei Männer mussten stationär behandelt werden, weil sie Psychose ähnliche Zustände entwickelten. Einer hackte sich vermutlich absichtlich bei Waldarbeiten drei Finger ab.

„I admit to being crazy mixed up at the time,“ Legg says. „As of 50 years later, I am not ready to say I did it on purpose. I am not ready to say I didn’t.“

Diese Mischung aus Depression, Hysterie und Hypochondrie ist seit dem als „Semi Starvation Neurosis“, als „neurotic triad“, bekannt.

Alle waren froh, als die Hungerphase zu Ende war und sie endlich wieder essen durften. Ob sich die Männer erholten, wie lange sie dafür brauchten und was während der Rehabilitation mit ihnen passierte, lest ihr in:

Hungern für die Wissenschaft Teil III

Hungern für die Wissenschaft Teil I