Grenzen haben und Grenzen setzen im Sprektrum

In meinen letzten Artikel über das Thema „Abgrenzung“ habe ich geschrieben, dass es meist an den frühkindlichen Erfahrungen liegt, wenn wir es nur schwer hinbekommen, Nein zu sagen zu den Ansprüchen anderer. Meist, aber eben nicht immer. So manch einer wird nämlich mit Begrenzungen geboren, die es wiederum schwer machen, eigene Grenzen zu erkennen und anderen zu vermitteln.

Doch fangen wir am Anfang an: Was bedeutet eigentlich „Grenze“?

Im zwischenmenschlichen Bereich setzen wir Grenzen, indem wir signalisieren, dass wir etwas nicht wollen. Entsprechend bekommen wir von anderen Zeichen, dass wir besser Abstand halten sollten.
Wir spüren Überforderungen oder Übergriffe körperlich und seelisch und erkennen so, dass eine entsprechende Barriere überschritten wurde. Unsere kulturelle Prägung, unsere Erziehung, Werte und Einstellungen definieren unseren persönlichen Rahmen genauso, wie unsere physische und geistige Verfassung und die „Grundausstattung“, mit der wir geboren werden. Wer als Autist zur Welt kommt, ist behindert, ergo begrenzt. Leute, das stammt nicht von mir, sondern ist halt irgendwann mal von Fachleuten so definiert worden. Autismus gilt als Behinderung, auch wenn manche sich selbst nicht in dieser Kategorie wiederfinden. Wie auch immer, Autist sein bedeutet anders sein, anders denken und anders handeln. Anders als der neurotypsiche Durchschnitt. Autismus weicht also von der Norm ab und ist somit im Wortsinn „nicht normal“. Und alles, was gesellschaftlich als Abseits der Norm gilt, behindert, begrenzt und wird begrenzt. Das ist quasi ein Automatismus. Nur die Ausprägungen und das individuelle Empfinden dieser Beschränkungen variieren.

Wir Autisten sprechen nicht umsonst von der unsichtbaren Wand, die uns von den nicht- autistischen Menschen trennt. Was macht diese Mauer aus? Nach meinem Verständnis vor allem die Detail fokussierte Wahrnehmung, die Schwierigkeiten mit der Perspektivenübernahme, die oft sehr wörtliche und direkte Art zu kommunizieren, die sensorische Empfindlichkeit und nicht zuletzt das geringer ausgeprägte Bedürfnis nach sozialen Interaktionen an sich. Diese Merkmale sind angeboren und weder der stärkste Wille oder die beste Therapie noch irgendwelche Wunderheiler- oder Mittelchen können diese Eigenschaften beseitigen. Ein autistisches Hirn ist, wie es ist und für die meisten Leute im Spektrum ist das auch o.k. so. Das, was denen helfen kann, die sich durch ihren Autismus eingeschränkt fühlen, ist die Vermeidung der Auslöser und die Anpassung der Lebensbedingungen an die autistischen Bedürfnisse. Wer einen anderen Weg gefunden hat, der möge das bitte in die Kommentare schreiben.

Damit wir aber nun wissen, wo wir Grenzen brauchen und wie wir möglichst gut für uns sorgen können, bräuchten wir:

 

Eine Diagnose

Eine Diagnose kann eine Menge Rätselraten stoppen. Sie kann helfen, zu verstehen, warum wir sind, wie wir sind und welche Möglichkeiten und Grenzen wir haben. Kann, denn Diagnostik hat: Grenzen. Es ist nicht leicht, die richtige Einschätzung zu bekommen, vor allem, wenn man lange Jahre geübt hat, seine Limits möglichst so weit auszudehnen, dass man reinpasst in die normierte Gesellschaft.

Ein Outing.

Outing will gut überlegt sein. Es kann alles besser machen und für Bedingungen sorgen, die den autistischen Bedürfnissen gerecht werden, oder das Gegenteil passiert. Wenn wir uns an dieser Stelle mal anschauen, was es für verquere und schlichtweg falsche Erklärungen, Beschreibungen und Definitionen von Autismus gibt, wird vielleicht klarer, was ich meine. Man findet Begriffe wie: Ich-bezogen, emotionslos, gefühlskalt, schizoid, desinteressiert an ihrer Umwelt, ohne Empathie, krank, leidend, geistig zurückgeblieben u.v.m. Kurz gesagt inkompatibel mit dem „gesunden“ Rest der Gesellschaft. Ich selbst bin das Gegenteil von dem, was ich gerade aufgezählt habe und die Autisten, die ich kenne, auch.

Wir wissen um die Diskrepanz zwischen diesen Zuschreibungen und unserem eigenen Erleben und auch, wie „gut“ (ironisch) Inklusion funktioniert. Das macht nicht gerade Hoffnung, durch ein Offenlegen der Diagnose zu bekommen, was wir brauchen. Und selbst wenn (manch) andere von Angesicht zu Angesicht positiv reagieren: „Fieses Gerede“ findet meist dann statt, wenn der oder die Betroffene nicht dabei ist. Genau dieses Geläster unterhält die o.g. Vorurteile. Und bis Autist sich versieht, wird er im Job ins stille Kämmerlein ausrangiert und weiß noch nicht mal warum. Mal abgesehen davon, dass wir oft gar nicht mitkriegen was läuft, selbst wenn es direkt vor unseren Augen passiert. Unbemerkt gemobbt oder manipuliert zu werden, auch das passiert durch autismusbedingte Begrenzungen.

Die Fähigkeit, zu vermitteln, was in uns vorgeht.

Wie soll man etwas rüberbringen, das man selbst nicht oder kaum spürt.

Viele Autisten können schwer transportieren, was sie fühlen und was sie brauchen, weder verbal noch durch körpersprachliche Zeichen. Das eigene Gespür für physische und seelische Zustände kann fehlen oder eben anders sein als bei NT.

Das kann in allen möglichen Bereichen zu Ausgrenzung oder zu Grenzüberschreitung führen, ganz ohne bösen Willen oder niedrige Motive irgendeiner Seite. Es passiert im Beruf, im Privatleben, bei Arztbesuchen, in Therapien usw.

Ein Umfeld, das leiser, geruchsärmer, ruhiger und weniger bevölkert ist.

Also so wie im Lockdown, nur ohne Corona  Weniger Überforderung hier würde bedeuten, weniger Overloads, Meltdowns und Shutdowns.

Overloads, Meltdowns und Shutdowns sind nämlich genau die Folgen, die passieren, wenn wir unsere eigenen Limits überschreiten oder zulassen, dass sie übertreten werden. Diese unguten Zustände sind der last Exits des autistischen Nervensystems. Das setzt irgendwann automatisch die Grenzen, die man nicht bewusst, rechtzeitig und absichtlich definieren konnte. Sei es, weil man sie zu spät bemerkt hat oder- tadaaa- weil man gewohnt ist, so lange durchzuhalten, zu lächeln, Ja zu sagen und sich wie auch immer anzupassen, bis es einfach nicht mehr geht. Viele Autisten (m/w) berichten, dass sie jahrelang sog. „People Pleaser“ waren. Sie haben sich abgeschaut und antrainiert, wie sie am wenigsten anecken und am besten durchkommen, bis Depressionen und andere Komorbiditäten zum Burnout führten.

Anderen ging es so wie mir: Ich war immer am Kämpfen, denn anpassen konnte und kann ich mich nur sehr schwer. Ich kann nicht „so…wie“, außer in ein paar wenigen Bereichen. Und hier habe ich mir mit diesem Copy Paste Dingens nachhaltig geschadet. Jedenfalls war ich von meiner Schulzeit bis zur Rente als diejenige bekannt, die immer „Nein“ sagt und macht, was sie will. Das wirkte so, als wäre ich perfekt darin, meine Grenzen zu ziehen. Tatsächlich war dieses Verhalten aber eher ein Überlebensmechanismus. Ich selbst habe als Autistin schließlich auch all die Beschränkungen, die ich oben beschrieben habe. Auch für mich sind face to face Auseinandersetzungen schwierig. Das hat nichts mit mangelndem Selbstbewusstsein zu tun. Diese Art der Interaktion und Kommunikation geht mir einfach viel zu schnell. Ich brauche zu lange, um zu verstehen, wie mein Gegenüber tickt, was er mir sagen will und was er von mir erwartet. Es vergeht viel zu viel Zeit für eine angemessene und passende Äußerung und meine spontanen Reaktionen sind dann selten konstruktiv. Dieses scheinbar renitente und taffe Verhalten hat mir zwar durchaus Respekt eingebracht, aber ich bin damit sicher auch vielen zu nahegetreten, ohne es zu wollen. Und wieviel Kraft das ständige Dagegenhalten gekostet hat, habe ich auch erst bemerkt, als wirklich gar nichts mehr ging. Dass ich manipuliert und gemobbt wurde, ohne es zu merken, brauche ich glaube ich nicht erwähnen.

Ich fasse zusammen:

Die angeborenen Andersartigkeiten und Besonderheiten autistischer Menschen an sich definieren eine Grenze zwischen uns, anderen und dem Umfeld. Erfolgt die Diagnose erst im späteren Leben, haben Kompensationen, Anpassung, Masking und Missverständnisse Muster etabliert, die der autistischen Identität entgegenstehen. Diese Entfremdung hat vor allem bei vielen älteren Autisten, so auch bei mir, dazu geführt, dass wir selbst unsere eigenen Grenzen zu oft überschritten haben. Die Folgen davon sind, dass nicht wenige irgendwann ausgebrannt waren und sind und nach der Diagnose, sofern sie eine bekamen, erstmal anfangen mussten/müssen, ihre Identität neu zu definieren. Grenzen setzen als Erwachsene neu zu lernen, seine Identität als Autist neu zu definieren, das sind durchaus Herausforderungen.

Warum sind Grenzen so wichtig?

Weil sie dafür sorgen, dass unsere Beziehungen mit anderen Menschen auf den richtigen Motiven beruhen und nur so Gegenseitigkeit möglich ist.

Weil wir nur bekommen, was wir brauchen, wenn wir klar sagen können, was uns fehlt- oder auch, was uns zu viel ist. Auf diese Weise bleiben oder werden wir gesund.

Die eigenen Möglichkeiten und Grenzen zu kennen, bedeutet Selbstverantwortung. Wer selbstverantwortlich und selbstwirksam handelt, hat es nicht nötig, andere für seine Emotionen und Lebensbedingungen verantwortlich zu machen.

Es kann auch mal notwendig sein, körperliche Barrieren klar zu definieren. Viele Autisten mögen es z.B. nicht, angefasst oder umarmt zu werden und wollen keine Hand geben. Sie tun es aber oder lassen es zu, weil „man das halt so macht“.

Jeder hat ein Recht auf seine eigene Meinung, seinen Lebensentwurf und darauf, auch spirituell zu glauben, was er für richtig hält.

Grenzen schaffen Klarheit, geben Orientierung und lassen Entwicklung zu. Man kann nur zu sich stehen und man selbst sein, wenn man nach seinen Werten lebt, seine Ansichten ruhig und konstruktiv vertreten und die anderer gleichermaßen gelten lassen kann. Man muss sich nicht immer einigen, aber man sollte sich gegenseitig respektieren.
Dass Autisten nicht lern- und entwicklungsfähig sind, ist eines der unwahrsten und am meisten diskriminierenden Vorurteile, vor allem dann, wenn wir es selbst glauben. Jeder Mensch ist lern- und entwicklungsfähig, selbstverständlich auch Autisten. Wir haben mehr als genug Potenzial.

Wie es jeder schaffen kann, sich auf konstruktive Weise zu behaupten und abzugrenzen, könnt Ihr in meinem vorherigen Artikel lesen.