Wenn Kaloriendefizit das Reptiliengehirn aktiviert

Die Migrationstheorie als einzig sinnvolles Erklärungsmodell für Anorexie

 

Vor 50 Millionen Jahren, als wir noch Reptilien waren, bestand unser Hirn aus nur einem einzigen Teil, dem Hirnstamm. Mehr brauchte es nicht, denn es hatte nur eine Aufgabe: instinktiv das Überleben seines Besitzers zu sichern. Nahrungsmittelknappheit war die größte Bedrohung und nur das Tier, das am längsten ohne Essen auskommen konnte oder zuerst an der Futterquelle war, überlebte. Hätten diese Lebewesen Zeit gehabt, zu überlegen, abzuwägen oder gar darüber nachzudenken, ob sie vielleicht unförmig aussehen könnten, wenn sie das wenige äßen, was es damals gab, wären wir Menschen nie entstanden.
Unsere Vorfahren waren darauf angewiesen, dass deren Gehirne im Energiemangel vollautomatisch die richtige Reaktion wählten: Schlafen legen oder loslaufen, je nach den Bedingungen ihrer Umgebung.
Es hat funktioniert. Der Mensch lebt. Wir haben uns entwickelt, vom Reptil zu dem sozialer orientierten Vorläufer des homo sapiens mit entsprechend höheren Gehirnfunktionen, bis zum Superhirn 2020. Heute sind wir 7,8 Milliarden Menschen auf diesem Planeten.
Wir denken und fühlen, wir finden und erfinden, wir entscheiden und wir handeln bewusst.

Oder auch nicht.

 Denn das Relikt aus Urzeiten unter unserer Schädeldecke, das macht nach wie vor keinerlei Anstalten, seine Autonomie aufzugeben. Und meistens ist das gut so, denn auch heute sichert das alte Reptiliengehirn unser Überleben, ohne dass wir irgendetwas dazu tun müssen. Es fragt uns nicht danach, was wir wollen. Es registriert kleinste Veränderungen in unserer Körperchemie und schon läuft der Notfallplan.

Und immer noch hält dieser uralte Teil unseres Hirns einen Mangel an Kalorien für eine unserer größten Bedrohungen. Seine Antwort von damals ist unser Problem von heute.

Wer schon einmal gefastet hat, wird es gespürt haben, das Energiehoch der ersten Tage, die Migrationsantwort auf Hunger. Diese Reaktion ist die instinktive, archaische Aufforderung, alles zu mobilisieren, um zu einem Ort zu wandern, wo es Essen gibt. Passiert das nicht, wird der Impuls beendet und das Hirn schickt den Menschen 2020 in den „Winterschlaf“, denn es hat sich einigermaßen an die Umweltbedingungen von heute angepasst. Es reduziert nach 72 Stunden Energiedefizit alle Vorgänge, die nicht lebensnotwendig sind. Der Stoffwechsel fährt runter, alles läuft auf Sparflamme.
Kalorien sparen und überleben ist das oberste Gebot, wenn die Nahrungsquelle nicht zugänglich ist. Die Auswirkungen eines Kaloriendefizits sind in der Minnesota Starvation Studie eindrücklich beschrieben.
Bei den meisten ist der Hungerzustand limitiert, der Körper und das Verhalten normalisieren sich. (Über die nachhaltigen Folgen von häufigeren Diäten kommt demnächst ein extra Artikel.)
Sie fangen nach einiger Zeit wieder an zu essen.

Aber nicht alle.

Wenn jemand eine entsprechende genetische Veranlagung hat, wird ein vorübergehender Kalorienmangel zum Dauerzustand. (Siehe Anmerkung am Endes des Artikels)
Dann schickt das alte Hirn seinen Menschen auf Wanderschaft und gibt Befehle, die vermutlich die meisten kennen, die unter Essstörungen leiden oder litten:

Beweg Dich (=suche nach Nahrung), stehen ist besser als sitzen. Gehen ist besser als stehen und laufen ist besser als gehen.   

Bleib wach, schlafen ist Zeitverschwendung.

Denk nur ans Essen, alles andere ist unwichtig.

Sei aufmerksam und ängstlich, denn Du hast Konkurrenten.

Hüte dich vor denen, die auch nicht essen, die ebenso lange und so schnell laufen, denn sie haben dieselbe Mission. Sie könnten Dich überholen. Also esse noch weniger, halte Dich nicht auf wegen ein paar Beeren am Wegesrand, die Dich nicht ausreichend ernähren werden und giftig sein könnten. Sei schneller und renne weiter als alle anderen. Und laufe allein, denn das, was Du finden wirst, könnte nicht für alle reichen.

Und hey, ich, Dein Hirn, versichere Dir, Du siehst füllig aus und fühlst Dich gut, glaub das, damit Du nicht anfängst zu schwächeln, sonst stirbst Du.

In ca. 40 Jahren Forschung über Essstörungen suchte man immer wieder nach Gründen für das seltsame und therapieresistente Verhalten dieser Patienten. Schließlich kam man zu der Erkenntnis, dass es dafür nur eine einzige folgerichtige Erklärung geben kann:

“The prevailing theory is that the mechanism that allows people suffering from AN to resist eating is the same mechanism that helped out ancestors deal with famine. Behaviors exhibited by people with AN such as “over activity, denial of starvation, and refusal to eat what limited food is available” are all components of adapted behaviors meant to get people to seek places with more food instead of conserving energy in a place of famine. Regardless of the original reason for restricting, the results activate this famine response and make long term starvation possible.”

Grund ist also vermutlich der entgleiste, überschießende Überlebensinstinkt der migrierenden Völker von damals, der bei Anorektikern nicht endet, obwohl Essen eigentlich im Überfluss vorhanden ist.
Dass diese Theorie den Kern des Problems wohl am besten trifft, sieht man daran, dass Essstörungen wie Anorexie in den (Nahrungs-)armen Entwicklungsländern sehr viel seltener sind. Dort ist Migration nach wie vor oft überlebenswichtig- und dort endet die Wanderschaft auf natürliche Weise. Entweder, weil ein Ort gefunden wurde, an dem es Nahrung gibt und alle wieder anfangen zu essen, oder durch den Tod.

Warum aber gehen Menschen mit Anorexie nicht irgendwann in den nächsten Supermarkt, in die nächste Pizzeria oder zu MacD? Sie wissen doch, sie sehen doch, dass Nahrung vorhanden ist und sie nur essen müssten?

Weil ein Reptiliengehirn nicht denken kann und Instinkt gewinnt.

Ein Stammhirn interessiert sich nicht dafür, was sein Mensch will. Es kann nicht erkennen, dass jemand freiwillig aufhört zu essen, während nebenan ein voller Kühlschrank steht. Es kann nicht unterscheiden zwischen echter Hungersnot und moderner Diät. Es registriert einen sinkenden Körperfettanteil und zu wenig Glukose und das reicht für die entsprechende Reaktion. Endet der Zustand bei Menschen mit entsprechender genetischer Veranlagung nicht rechtzeitig, nehmen sie zu viel ab, führt der Mangel an Kalorien zu Veränderungen der Gehirnchemie, die das Hunger- und Sättigungsgefühl, das Bewegungsverhalten und die Sicht auf den eigenen Körper verändern.

Die Hunger- und Sättigungshormone, die Antriebshormone, wie Dopamin und Serotonin sowie die körpereigenen Opioide verhalten sich bei Anorektikern im Kaloriendefizit gegenteilig zu denen gesunder Menschen. Die Wirkung der Botenstoffe hält sie zu ständiger Bewegung an und der Verzicht auf Nahrung wird möglich, weil das Hormon Dopamin, anders als bei Gesunden, Essen an sich (nicht das Zunehmen) zu einer Angst auslösenden Aktion macht, anstatt zu einem angenehmen Erlebnis. Wenn außerdem die Hunger- und Sättigungshormone ausgeschaltet sind, ist Verzicht kein Problem. Das alles war sehr förderlich für unsere Vorfahren, und ist heute lebensgefährlich für Menschen mit Anorexie.

AN researchers have found that most neuromodulators and hormones influencing hunger, satiety, and activity are present in unusual concentrations that are opposite to those found in normal starvation. These findings are all consistent with adaptations to turn off eating and turn on traveling.
Researchers are closing in on the genetic mutations that lead to some of the biochemical alterations of appetite and satiety in AN.

Jetzt könnte man meinen, wenn die Biochemie durcheinander ist, müssten doch Medikamente wirken, ähnlich wie bei anderen mentalen Erkrankungen.

Leider ist das nicht der Fall. Warum, das weiß man noch nicht so genau. Ich kann Euch diese Frage also nicht beantworten. Was man aber weiß ist, dass nicht nur die veränderte Gehirnchemie die Krankheit so resistent macht gegen die meisten Therapien. Falsch gelerntes Verhalten als Reaktion auf die biologische, genetische Hungersymptomatik trägt maßgeblich dazu bei, die Krankheit zu manifestieren, denn unser Gehirn tut, was wir ihm beibringen! Essstörungen sind also auch Angst- und Verhaltensstörungen.

“Cognitive symptoms of AN probably result from coordinated mechanisms involving cortical function, along with findings that neuroendocrine changes normalize on weight restoration suggest that the symptoms associated with AN result from adaptive and finely tuned neurobehavioral mechanisms rather than from biological defects or global system breakdown secondary to advanced starvation.”

Vor einigen Jahren erkrankte eine Frau mit einer langjährigen Anorexie an Enzephalitis, einer Entzündung des Gehirns. Während der Infektion und dem, was dabei in ihrem Gehirn vorging, verschwanden plötzlich sämtliche anorektischen Symptome. Sie begann, normal zu essen, sie nahm zu, ihr Körperfettanteil stieg. Leider war sie immer noch nicht an ihrem biologischen Gewichtsoptimum. Sie hatte noch nicht das Gewicht erreicht, in dem ihr Körper und ihr Gehirn problemlos funktionierten, nachdem die Gehirnentzündung ausgeheilt war. Das war fatal, denn Patienten mit Anorexie (und anderen restriktiven Essstörungen) müssen mindestens ihr Setpoint Gewicht erreichen, damit sich die Neurotransmitter in ihren Gehirnen stabilisieren. Nur dann normalisieren sich das Hunger- und Sättigungsgefühl, das Körperbild, die Depressionen und die Ängste.
Vor allem aber waren die gelernten Verhaltensmuster der Anorexie noch im neuronalen Netzwerk der erkrankten Frau aktiv, denn daran wurde nicht gearbeitet. Die Kombination aus immer noch zu niedrigem Gewicht und gelerntem Verhalten reichte aus, um die Erkrankung zu reaktivieren.

Und die Angst vor Gewichtszunahme ist das wohl schwierigste gelernte Verhaltensmuster.
Patienten mit Essstörungen haben fast alle Angst vor Gewichtszunahme. Diese Angst hält die Erkrankung aufrecht und ist nicht selten sogar der Auslöser. Aber nicht die Ursache! Die Angst vor Gewichtszunahme ist weitgehend erlerntes Verhalten. Diese Sorge ist eine kulturelle Bürde, ein Verhalten, das schon junge Kinder lernen. Gewichtsangst, die Angst, dem Ideal nicht zu entsprechen, betrifft eine Menge Leute in der westlichen Welt. Ich kenne kaum jemanden, der nicht auf der schlanken Seite der Menschen stehen will. Aber nur ein geringer Prozentsatz hat diese fatale genetische Veranlagung, so dass die Angst vor zu viel Gewicht bei vielen zwar zu restriktivem Diätverhalten und gestörtem Essverhalten führen kann, aber nicht in einer klinischen Essstörung endet.

Bei Anorexiepatienten vermutet man, dass das biologische Grundproblem tatsächlich nicht vornehmlich Gewichtsangst ist, sondern die Angst vor dem Essen an sich ist (= Food Fear oder feeding fear). Wer damals migrieren musste und sich zu lange mit dem weniger Nahrhaften aufhielt, kam nicht ans Ziel. Außerdem machte Essen im Bauch langsamer. Aber auch mehr Gewicht hindert am schnellen Vorwärtskommen, insofern ist die Biologie durchaus an dieser Sorge beteiligt.
Auch Zugvögel halten sich schmal und landen nicht alle 2 Stunden für einen Snack. Auch wandernde Tiere hungern bis zum Ziel.

Aber die kulturelle Botschaft des „je dünner umso besser“ ist als einer der Hauptrisikofaktoren nicht zu unterschätzen. Der Druck, schlank sein zu müssen, setzt den Menschen, deren Selbstwert und Selbstfürsorge durch eine Essstörung massiv reduziert sind, um einiges mehr zu als anderen. Wenn die Krankheit alles andere genommen hat, wird dünn zu sein zur Ersatzidentität. Eine Identität loslassen zu müssen, wenn noch kein anderes sinnstiftendes Dasein aufgebaut werden konnte, ist unglaublich schwierig. Es ist wie ein Sprung in ein dunkles Loch, ohne zu wissen, wie und wo man landen wird. Diese scheinbare kulturelle Anforderung und die Sorge vor Identitätsverlust verstärken die Angst und das entsprechende Vermeidungsverhalten, dass diese Angst als vermeintliche Realität in deren Gehirne schreibt.
Wenn Verhaltensweisen durch permanentes Wiederholen zu automatisierten Abläufen geworden sind, weil die Erkrankung zum Teil über viele Jahre besteht, ist es unglaublich schwierig, diese Muster zu durchbrechen und umzulernen.
Angstverhalten und die neuronalen Autobahnen, die dadurch entstehen, sind wesentlich daran beteiligt, dass restriktive Essstörungen so schwer behandelbar sind. Denn wenn der Wunsch nach Veränderung und die Angst vor dem Essen gleichermaßen 100 % sind, gewinnen nahezu immer die Angst und die Gewohnheit. Es ist ein brutaler Gewaltakt, ein Gehirn bewusst in eine oft über Jahrzehnte gelernte Angst zu schicken, die Stressreaktionen und den Prozess des „Umprogrammierens“ auszuhalten, über Monate hinweg immer genau das zu tun, was man am meisten fürchtet und das zu lassen, was scheinbar hilft.

Deshalb ist es existenziell, Menschen, die am Anfang einer Essstörung stehen, sofort und qualifiziert zu helfen, bevor sich die pathologischen neuronalen Bahnen bilden können, die später nur noch schwer zu überschreiben sind. Schwer, aber nicht unmöglich!
Man weiß, dass junge Menschen, die am Anfang ihrer Erkrankung in (die richtigen) Therapien gezwungen werden, gute Chancen haben, relativ schnell wieder völlig gesund zu werden. Zwingen ist manchmal nicht zu vermeiden, denn warten Eltern und Ärzte auf den eigenen Willen, geht wertvolle Zeit verloren. Auf Motivation hofft man bei Essstörungen lange vergeblich.

Fazit:

Wenn das Reptiliengehirn uns migrieren lässt, wenn es uns zu Bewegung antreibt und Angst macht vor Nahrung (=bio),

wenn wir die Angst vor dem Essen verknüpfen mit kulturellen Glaubensbotschaften (=sozial)

und wenn wir uns so verhalten, als wären Essen und Gewicht unsere Feinde (=psycho), halten wir den

bio-psycho-sozialen Kreislauf der Essstörungen aufrecht.

 

Anmerkung:

Die genetische Antwort der Anorexie setzt nach aktuellen Erkenntnissen ein, sobald jemand mit einer entsprechenden Veranlagung 15 % seines Ausgangsgewichtes verliert, egal aus welchem Grund und unabhängig von Geschlecht, Größe oder der Höhe des Ausgangsgewichtes. Das gilt lebenslang, denn genetische Veranlagungen können ruhen, aber nicht heilen. Anorexiepatienten oder solche mit der Wahrscheinlichkeit für diese Veranlagung, müssen immer darauf achten, ihr optimales Gewicht zu halten.

 

Das Setpoint Gewicht ist das Gewicht, bei dem sich der Körper einpendelt, wenn wir intuitiv essen. Intuitiv bedeutet, gemäß unserem tatsächlichen Appetit und unserem Hunger- und Sättigungsgefühl. Tatsächlicher Appetit heißt, wir sind in der Auswahl unserer Nahrung an unserem biologischen Bedürfnis orientiert, das frei ist von jeglichen Essensregeln (=Restriktion), Diäten oder Maßnahmen wie intermittierendem Fasten und ähnlichem (= Restriktion) und vor allem frei von einem persönlich gewählten Zielgewicht, das meist unter dem tatsächlichen Setpoint liegt. Ein Zielgewicht unter dem Setpoint führt zwangsläufig zu einer Kalorienzufuhr unter dem Bedarf = Restriktion.