Ich hatte eine Kollegin mit ADS (ohne H für Hyperaktivität). Sie war eine der Wenigen, die ich überhaupt nicht verstanden habe, egal wie sehr ich mich bemühte. Wir waren in fast jeder Hinsicht so unterschiedlich, wie zwei Menschen nur sein konnten. Ich mag Struktur und Klarheit, bin direkt und sehe das Wesentliche. Ich kann mich sehr gut konzentrieren und fokussieren, arbeite schnell und bin nur ablenkbar, wenn mich etwas in den Overlaod bringt (davon gibt es allerdings einiges), und nichts nervt mich mehr als endlose Diskussionen, soziale Überforderung und intellektuelle Unterforderung. Unterfordert war ich permanent.
Besagte Kollegin dagegen war in allem was sie tat unglaublich kompliziert, hat sich in ihrem Versuch, möglichst korrekt zu arbeiten, nur verzettelt, war immer im Burnout, weil sie nichts zu Ende gebracht hat, war in Gesprächen so sprunghaft, dass ihr kaum jemand folgen konnte und hat alles bis zum Getno debattiert, in dem verzweifelten Versuch, zu verstehen, was denn nun wichtig ist und wie sie es umsetzen muss. Sie war keineswegs dumm, sie konnte aber wichtig und unwichtig nicht unterscheiden. Wegen ihr dauerten Dienstbesprechungen oft um einiges länger als vorgesehen. Sie war ständig überfordert. 


Wir beide sind uns gegenseitig tierisch auf den Geist gegangen. Ich habe sie gebremst, wo ich nur konnte, weil ich weiterkommen und fertig werden wollte und längst wusste, „wohin die Reise geht“ (RW), während sie genervt war von meiner Intoleranz und Ungeduld und mich unsozial fand.
Anders ausgedrückt: Wir haben uns aufgrund unserer Unterschiedlichkeit gegenseitig in den Overload katapultiert, der sich dann allerdings nahezu identisch zeigte. Kürzlich hatte ich mal wieder indirekt mit ihr zu tun und habe mich gewundert, wie es sein kann, dass manche von Euch trotz dieser doch recht deutlichen Unterschiede gleichzeitig eine ASS und ADHS Diagnose haben. Also bin ich dieser Frage mal nachgegangen und bin ehrlich gesagt nicht wirklich schlauer. Soll heißen, das Einzige, was sich in jeder Abhandlung gleicht, ist die Beschreibung der Symptome. Gut für mich, denn ich muss sie hier nicht nochmal auflisten, sondern kann Euch darauf verweisen. Über ASS habe ich schon genug Inhalt auf dem Blog und die Symptome von AD(H)S findet ihr z.B. hier. Die Doppeldiagnose ASS und ADHS wird scheinbar schon lange vergeben, obwohl erst das derzeit gültige DSM diese Option zulässt. Vielleicht haben sich die DSM Schreiber einfach den Gegebenheiten angepasst und möglich gemacht was längst gängige Praxis ist. Oder sie haben sich allein auf die Parallelen der Verhaltensweisen konzentriert, die sich durchaus ähneln können, ohne den Hintergründen auf den Grund zu gehen. Zugegeben, die herauszuarbeiten, ist zumindest bei Kindern schwierig.ASS und AD(H)S fallen in den Bereich der frühkindlichen Entwicklungs-störungen, das heißt, die ersten Auffälligkeiten müssen schon im Kleinkindalter auftreten. Heute hat man sehr viel mehr Wissen über diese beiden Störungen, so dass Kinder mit unübersehbaren Verhaltensweisen schon früh einer Diagnose zugeführt werden können. Doch Kinder sind noch nicht in der Lage, sich selbst zu reflektieren. Sie können nicht sagen, ob Zuschreibungen und Interpretationen passen. Somit bleibt den Fachleuten meist nur die Orientierung an dem, was sie von außen sehen. So kann es passieren, dass jemand in der Kindheit ein ADHS verpasst bekommen hat und es nicht mehr los wird, auch nicht, wenn der Befund später in Richtung ASS korrigiert wird. Ich habe irgendwo gele-sen, dass es nicht wenige falsch positive kindliche ADHS Diagnosen gibt, die in der Pubertät, wenn die Ansprüche an soziale Interaktionen zunehmen, in Richtung Autismus Spektrum korrigiert werden müssen. Leider finde ich die Quelle nicht mehr. Aber wie auch immer, Fakt ist, was mal offiziell verschriftlicht wurde, das bleibt hängen und wenn man sich nur lange genug mit einem Label identifiziert und auch von anderen so gesehen wird, kann man es nicht so einfach wieder abschütteln. Somit laufen doch einige (erwachsene) Autisten mit einer Doppeldiagnose rum und fragen sich immer wieder, wohin sie nun eigentlich gehören. Und jetzt ist diese Kombi auch noch offiziell möglich und wird nicht mehr in Frage gestellt. Manche finden sich aber auch in beidem wieder. Dann soll es so sein.

Zum Vergleich hier kurz einige Symptome und deren Hintergrund:
ADHS vs ASS
Leichte Ablenkbarkeit, auch von eigenen Gedanken oder von Bewegungen, Gesprächen u.a. im Umfeld. Manchmal Hyperfokus bei großem Interesse.
Nicht leicht ablenkbar, es sei denn Reizüberflutung. Unter optimalen Bedingungen (ruhig und außerhalb von Depressionen) hervorragende Konzentrationsfähigkeit, vor allem wenn etwas interessiert = Hyperfokus.
Schneller Wechsel zwischen Tätigkeiten, immer auf der Suche nach et-was, das interessanter sein könnte.
Schnelle Wechsel von einer Aufgabe zur anderen sind überfordernd.
Konzentrationsschwierigkeiten.
Konzentration ist schwierig, wenn die autistische, detailfokussierte Wahrnehmung zu sehr herausgefordert wird. Umschalten auf ganzheitliche Wahrnehmung ist mit viel Übung möglich, aber nur kurzzeitig. Ist sehr anstrengend und ermüdend. Viele Autisten „beamen“ sich dann weg, aka träumen.
Ständiges Reden, andere unterbrechen, da gelangweilt vom Gespräch, abgelenkt von der Umgebung oder innerlich mit anderen Themen beschäftigt.
Viel reden oder andere unterbrechen aufgrund mangelnder Perspektivenübernahme/TOM: Was interessiert den anderen? Wann bin ich dran? Viele Autisten sind aber eher still.
Hyperaktivität bei hyperaktivem Subtyp. Nicht stillsitzen können.
Zappeln = Stimming zur Beruhigung. Bewegungsverhalten bei vielen Autisten eher reduziert. Viele sitzen stundenlang ruhig über ihren Interes-sen.
Beide: Schwierigkeiten, angemessen auf Emotionen anderer zu reagieren.
Smalltalk nicht genug stimulierend.
Smalltalk schwierig, weil unwichtig und damit Zeitverschwendung. + TOM: Was interessiert andere?+
Keine auffälligen Interessen.
Autisten haben oft gänzlich andere Interessen als NT.
Keine repetitiven Bewegungen.
Stimming.
Keine rigiden Routinen.
Rigide Routinen.
Sprunghaft.
Konstant.
Kein Problem mit Augenkontakt.
Auffälliges Blickverhalten.
Freundschaften, Beziehungen gut möglich; sind aber oft für andere zu anstrengend.
Freundschaften und Beziehungen möglich, für viele aber schwierig (Autismus = Interaktionsstörung). Andere Menschen sind anstrengend für Autisten.
Keine Entwicklungsverzögerung in Lebensabschnitten.
Entwicklungsverzögerungen, insb. im sozialen Kontext.
Verzettelt: Eine Sache anfangen, nicht fertig machen, eine neue Aufgabe beginnen, die spannender sein könnte.
In der Regel extrem konsequent, bringen angefangenes zu Ende. Meist kann etwas Neues erst begonnen werden, wenn eine Aufgabe fertig ist.
Dinge verlegen, vergessen, weil gedanklich oft abwesend.
Vergessen und verlegen von Gegenständen, wenn mehreres gleichzeitig bedacht werden muss.
Oft intensive aber schnell wechselnde Interessen; nicht dranbleiben.
Oft lebenslange Spezialinteressen.
Extrinsisch motiviert
Intrinsisch motiviert
Den meisten Menschen mit ADHS ist alles zu wenig, während den Autisten in der Regel alles zu viel ist.
Diese Liste ist mit Sicherheit unvollständig und außerdem:
„Kennst Du einen Autisten, kennst Du genau einen Autisten und Kennst Du einen ADHS-ler, kennst Du genau einen ADHS-ler.“
Beide Konditionen sind ein neurodiverses Spektrum. Es gibt keine Proto-typen und keine abschließende Antwort auf die Frage, ob ADHS und ASS gemeinsam in einem Menschen existieren können oder nicht.
Ich finde dieses ganze Thema irgendwie unbefriedigend. Ich sehe ja noch nicht einmal allzu große Verhaltensähnlichkeiten! Das mag aber daran liegen, dass ich keinen Vergleich zwischen Kindern mit ASS und mit ADHS ziehen kann, weil ich nicht in diesem Bereich tätig war oder bin und auch keine eigenen Kinder habe. Bei den Kleinen mag es mehr scheinbare Ähnlichkeiten geben, als bei Erwachsenen.
Entsprechend schwer fällt es mir, diesen Artikel auf den Punkt zu brin-gen. Es gibt sie einfach nicht, diese zentrale Aussage, die ich gerne ge-funden hätte und die da lauten sollte: „SO und nicht anders ist es.“

Also fasse ich zusammen, wie ich es verstehe:
Bei AD(H)S sind vor allem die Aufmerksamkeit und die emotionale und körperliche Impulskontrolle/Bewegungsintensität betroffen, während bei Autismus die soziale Interaktion und Kommunikation und die Besonder-heiten der Wahrnehmung vordergründig beeinträchtigt sind.
Autisten sind schnell überfordert, ADHS-ler dagegen unterfordert von ihrer Umgebung. Autisten suchen Ruhe und schotten sich ab. Menschen mit ADHS suchen eher nach etwas, das besser, interessanter, stimulierender ist als das, was sie gerade haben oder tun. Oder sie ziehen sich in ihre eigene Welt zurück und träumen- und wirken dann schnell mal so, wie die eher introvertierten Autisten.
Die jeweiligen Problematiken zeigen sich also in manchen Bereichen in ähnlichen Verhaltensweisen, die jedoch einen völlig anderen Ursprung haben.
ADHS kann in seinen Grundsymptomen medikamentös behandelt werden, so dass Betroffene ein relativ normales Leben führen können, während es keine spezifische, medikamentöse Autismus Behandlung gibt. Autisten müssen sich einfügen (maskieren), wenn sie in der neurotypischen Welt zurechtkommen und akzeptiert werden wollen.
Erwachsene können im Diagnoseprozess erklären, wie sie sich selbst wahrnehmen und warum sie sich auf eine bestimmte Art und Weise ver-halten. Das macht eine Differenzierung der beiden Entwicklungsstörungen leichter. Vermutlich sind Doppeldiagnosen nach der Kinder- und Jugendzeit seltener.
ADHS kann sich tatsächlich bei Erwachsenen auswachsen, Autismus nicht.
Ob man nun ADHS und ASS gleichzeitig haben kann, dazu gibt es keine endgültige Aussage. Selbst eine gemeinsame genetische Grundlage wird kontrovers diskutiert.
Ich selbst kann mir schwer vorstellen, wie es sein kann und sich anfüh-len muss, beides gleichzeitig zu haben. Es ist aber sicher interessant für alle, ein paar Stimmen zu hören bzw. zu lesen von denjenigen, die davon überzeugt sind, dass ihre Doppeldiagnose stimmt.