Home- Treatment unter erschwerten Bedingungen Die Erblichkeitsquote von Anorexie liegt bei ca. 60 %. Das ist inzwischen gesichertes Wissen. Und doch gibt es auch im Jahr 2022 noch laute Stimmen, die sagen, die Ursache dafür, dass Anorexie in Familien gehäuft auftritt, sei das Anorexie- fördernde Vorbildverhalten der Eltern, insbesondere der Mütter gegenüber ihren Töchtern. Der Nachahmungseffekt sozusagen. Das ist richtig und falsch zugleich: Es ist falsch, dass Mütter [1]die sehr auf ihre Figur achten, Diät halten, sich selbstkritisch äußern, Sport machen, und auch viel und regelmäßig am (Ess)verhalten ihrer Kinder rummäkeln, mit diesem Verhalten eine AN auslösen, wenn die genetische Komponente als Voraussetzung beim Kind fehlt. Kinder ohne „AN Gene“ werden zwar so vielleicht auch ein gestörtes Essverhalten übernehmen, sie werden aber nicht erkranken. Doch meist weiß man nicht, ob eine entsprechende Vulnerabilität vorliegt. Deshalb ist oben genanntes Verhalten grundsätzlich schon präventiv als problematisch zu betrachten. Es ist richtig, dass bei Kindern, die erblich bedingt anfällig sind für diese Erkrankung, ein derartiges Verhalten mitsamt dem Nachahmungseffekt zum Auslöser werden kann. Und manchmal war und ist die Mama gesund und doch erkrankt ein Kind, weil möglicherweise die Mama einfach Glück hatte und nie im kritischen Bereich eines Energiedefizites war.  Anorektische Mütter fallen oft nicht durch krankheitsspezifische Besonderheiten, wie starkes Untergewicht und massiv reduzierte Ernährung auf. Die meisten erwachsenen AN erreichen im Laufe ihres Lebens gewollt oder ungewollt einen Level, den man als „quasi recovered“ bezeichnen kann. Fachlich ausgedrückt, sie befinden sich in einer partiellen Remission. Die Krankheit brennt bei vielen etwas aus in den erwachsenen Jahren, denn der Widerstand des Körpers gegen den Hunger wird geringer und die Lebensumstände (Arbeit, Partnerschaft, Familie) machen eine Anpassung des AN Verhaltens notwendig. Betroffene haben ein scheinbar normales Leben. Ihre Ess- und Bewegungsgewohnheiten sind gesellschaftlich kompatibel, um nicht zu sagen hoch anerkannt und gewürdigt. Die heimlichen Kompensationsmechanismen sind sehr ausgefeilt und eben heimlich, und in den Kopf gucken kann nun mal keiner. Der Leidensdruck ist bei diesen Betroffenen in der Regel geringer als mancher glauben mag. Solange die AN in Ruhe gelassen wird.  Es kommt auch nicht selten vor, dass Frauen erst durch ihre erkrankten Kinder darauf aufmerksam werden, dass sie fast zeitlebens dieselben gestörten Gedanken und Verhaltensweisen hatten. Sie kommen mit Therapiebeginn ihres Nachwuchses darauf, dass das AN heißt. Home- Treatment (FBT) ist die derzeit wirksamste Behandlungsmethode bei Anorexia nervosa bei Kindern- und Jugendlichen, geschlechterunabhängig. Doch auch der beste Ansatz hat Grenzen, nämlich zum Beispiel eine akute und damit aktive Anorexie insbesondere des Elternteils, der vornehmlich für die Wiederernährung zuständig ist. In der Regel ist das die Mutter. Ich glaube, niemand käme auf die Idee, einer offensichtlich ernsthaft erkrankten Mama zu raten, ihr AN- Kind zuhause wiederzuernähren. Ist die Mutter dagegen komplett genesen, dann darf sich die AN des Kindes auf etwas gefasst machen, denn sie wird sich nicht mehr tarnen können. Trotzdem hat auch diese Konstellation ihre Tücken, nämlich in der Mutter – Kind Interaktion. Niemand möchte seine Gedanken ausgelesen bekommen, schon gar nicht im Unabhängigkeitsmodus der Pubertät, von der eigenen Mama und mit in der Regel unangenehmen Konsequenzen. Es kann passieren, dass die AN der Kids dadurch umso lauter und der Widerstand umso stärker wird, bis dahin, dass ein Miteinander nicht mehr möglich wird. Es braucht viel Einfühlung und psychologisches Geschick der Eltern, um das zu verhindern und die positiven Aspekte einer Ex- AN- Mama nutzen zu können. Und was ist mit denen, die erkrankt, aber unauffällig sind, die so irgendwie klarkommen oder das von sich denken, weil ihre AN schon lange nicht mehr herausgefordert wurde? Nichts stresst schon gesunde Eltern so sehr, wie Home-Treatment und die Tatsache, dass sich für lange Zeit alles nur ums Essen und die AN drehen wird. Für von AN betroffene Mütter ist das THE WORST. Viele wissen es nur nicht, bis sie mitten drinstecken. Gerade AN- Mamas wollen ihre Kinder so schnell und so effizient wie nur möglich aus dieser Hölle holen, wissen sie doch genau, was es heißt, ein Leben mit AN irgendwie lebenswert gestalten zu wollen und zu sollen. Die mit Therapieerfahrungen sind außerdem oft so davon traumatisiert, dass sie ihre Kids nicht in einer Rehaeinrichtung sehen wollen. Sie sollen keinesfalls dasselbe Schicksal haben, dasselbe durchmachen. Also lautet der Vorsatz: Wir machen Recovery, zusammen. Gute Idee? Nein. Natürlich ist die Erkrankung des Kindes der Motivator schlechthin, die eigene AN zum Teufel zu schicken. Aber sind wir ehrlich: Wer diese Krankheit besiegen will, braucht alle Kraft und i.d.R. professionelle Hilfe für sich selbst. Je länger sie bestand, umso mehr. Vielleicht schaffen es einige wenige, durch den Genesungsprozess ihrer Kinder zu gesunden und das Kind gesund zu kriegen, aber der Großteil wird nach hochenergetischem Beginn kläglich scheitern. An beidem. Weil man eben nicht mal so nach 20 Plus Jahren im AN Modus für das und mit dem Kind 3000 + Kcal essen kann, täglich. Die man auch noch vorher zubereiten muss. Die eigenen Ängste und die Meltdowns des Kindes gleichermaßen zu managen, das ist zum Scheitern verurteilt. Zwei laute AN sind ein einziges Chaos. Dazu die Gemeinheit der AN, andere füttern zu wollen und selbst zu darben. Dass das Kind viel isst, ist super, aber Mama(s AN) muss das Soll unterscheiten. Der so häufige Spruch der Mädels: „Ich hasse Dich, Du willst mich fett machen“, wird somit oft wahr. Eine sehr problematische und schambehaftete Dynamik. Auch andere Verhaltensweisen außerhalb des Essens, von Body- Checking, Vermeidungsverhalten aller Art, über die Klamottenwahl bis zur Bewegung hören nicht einfach auf, nur weil der Schock groß ist, dass der Nachwuchs nun auch betroffen ist. Wenn man bedenkt, dass Mutter und Kind dieselben Gedanken und Muster haben und bewusst und unbewusst ihre ANs miteinander konkurrieren lassen, ist das Projekt „zu Hause gesund werden“ zum Scheitern verurteilt. Fakt ist: Jetzt haben wir zwei Probleme. Erstens: Wie wir alle wissen, ist der Kenntnisstand über AN in diesem und in anderen Ländern bis auf wenige Ausnahmen unterirdisch. Was also sagt man einer Mama mit AN, die sich für FBT als einzige evidenzbasierte Methode interessiert und voll motiviert an der eigenen Heilung und der ihres Kindes arbeiten will? Was man raten müsste ist: Auf keinen Fall Home- Treatment. Lass das Kind anderweitig behandeln und sorge Du gleichzeitig für Deine eigene Therapie und Deinen Weg aus der Essstörung. Unabhängig voneinander. Erwachsene und Kinder brauchen unterschiedliche Ansätze. Doch wo schickt man sie hin, die Beiden? Auffüttern des Kindes geht vielleicht noch in der einen oder anderen Klinik, aber der Rest, der in den Kliniken leider so häufig versäumt wird, die Arbeit an den AN Regeln und Gedanken, was machen wir damit? Meine Antwort kann unbefriedigender nicht sein: Ich weiß es nicht! Vielleicht kann der Vater die Hauptarbeit leisten, das ist aber eher selten der Fall. Und selbst wenn, zwei AN sind zu viel für einen Papa.   Zweitens: Wenn Mütter im laufenden Prozess merken, dass sie dieselbe Erkrankung haben oder dass sie sich aufgrund der eigenen Betroffenheit übernommen haben, ihre eigene AN wieder massiv Fahrt aufnimmt, was dann? Dann haben wir Home- Treatment unter erschwerten Bedingungen. Es gibt weder Studien noch Leitfäden über und für eine derartige Situation, die sicher nicht gerade selten ist. Meine Meinung: Das ist, siehe oben, denkbar ungut für die Genesungschancen des Kindes. Egal wie sehr Mama versucht, sich zusammenzureißen und ihre Themen außen vor zu lassen: Es wird nicht funktionieren. Wenn irgend möglich, sollte zumindest das Refeeding ausgelagert werden. An den gesunden Elternteil, an den Vater, an eine externe Hilfe o.ä. Geht das nicht, siehe erstens. Dann kann ich nur hoffen, dass die Familie eine gute FBT Therapeutin an der Hand hat, die einen Großteil der Arbeit mit dem Kind übernehmen kann. Doch auch das ist nur die halbe Miete, denn ohne das methodisch richtige Refeeding gibt’s keine Heilung.   Heißt das, eine externe Behandlung in einer Klinik ist für das Kind einer AN- Mama derzeit der einzige Weg? Ich sage ja. Zumindest das Refeeding sollte in einer Klinik passieren- und zwar komplett und weder vegan noch vegetarisch und nicht nur bis zu einem Minimumgewicht. Schwer genug, so eine Klinik zu finden. Zeitgleich sollte sich die Mutter (zusammen mit dem Vater falls vorhanden) intensiv mit dem Thema AN beschäftigen, sich auf den neuesten Stand bringen. Die Mutter muss sich einen selbstehrlichen Eindruck vom eigenen State machen und sich darüber klar werden, welche Ziele sie selbst hat und wie realistisch diese zu erreichen sind. Und wie sie ihre AN von der des Kindes abgrenzen kann. Dazu braucht sie nicht zwingend professionelle Hilfe (auch wenn diese hilfreich wäre). Englischkenntnisse sind allerdings fast unabdingbar, wenn man an neueste Infos kommen will. Die Verhaltensmodifikation nach der Klinik könnte in Ermangelung geeigneter Therapeuten der Vater übernehmen, wie gesagt, falls vorhanden und sofern es ihm möglich ist und evtl. mithilfe eines ED- Coaches, der mit Eltern arbeitet. Eine „wie die Mutter, so die Kinder“ AN- Familie, steht im Grunde vor demselben Problem, wie alle, die im Home- Treatment nicht unterkommen, egal aus welchem Grund. Es gibt hierzulande zu wenig geeignete Therapieeinrichtungen und kaum State of the Art Kenntnisse im Bereich AN. Wenn wir es nicht schaffen, das zu ändern, werden immer wieder Menschen mit dieser Erkrankung auf der Strecke bleiben. Das ist die traurige Realität, die keinen schönen Schlusssatz möglich macht.   [1] Wir sprechen hier von Müttern, weil die Betroffenheitsrate hier größer ist als die von Vätern, auch wenn Männer ebenfalls von AN betroffen sein können.