„Psychosomatik- wenn die Seele den Körper krank macht.“ Dieser Blickwinkel mag häufig stimmen. Doch wenn man davon ausgeht, dass alles, was sich nicht im Blutbild oder an einem verbogenen Körperteil zeigt, mit der Heilung des inneren Kindes gelöst werden kann, dann kann das sogar Leben kosten. Die Mythen von Anorexie als psychosomatische Erkrankung, das nicht- essen- Wollen! als Ausdruck von pubertärem Protest, Überlegenheit und sturem Autonomiestreben, halten sich so hartnäckig, dass es sich einfach nicht rumsprechen will, dass wir es hier mit einer erblich bedingten, vornehmlich biologischen Erkrankung zu tun haben, die nur das Energiedefizit einer Grippe braucht, um im Hirn und damit im Menschen alles ins Chaos zu stürzen, und die Selbstverständlichkeiten des Essens buchstäblich auf den Kopf zu stellen. Stattdessen wird nach wie vor eifrig darüber spekuliert, ob man eine AN, auch genannt Magersucht, entsprechend einer Suchterkrankung betrachten und behandeln sollte, um den Mädels so das lebensgefährliche Streben nach dünn und dünner auszutreiben. Welches daraus resultiert, dass sie zu oft Germanys Next Topmodel geschaut haben und außerdem der Oberschicht angehören, die den ganzen Tag nichts Besseres zu tun hat als sich mit Klamotten, Ernährung und Aussehen zu beschäftigen. Bei all der Oberflächlichkeit brauchen die Kids dann halt eine Sucht, um den tieferen Sinn des Lebens zu finden. Oder um sich aufzulehnen gegen die Erwachsenen. Und AN als Abhängigkeit wird man gemäß der gängigen Expertenmeinung nur los, indem man ab Tag eins die Verantwortung für den Inhalt seines Tellers wieder übernimmt, sich komplett von den schuldigen Eltern distanziert und sich analytisch mit seinen seelischen Abgründen beschäftigt. Die unfassbar tief sind, im zarten Alter von 11- 16, der Hochphase der AN. Mal ernsthaft: Naiv betrachtet mag sich Anorexie wie eine Sucht darstellen, aber von Fachleuten könnte man erwarten, dass sie ein bisschen genauer hinschauen. Das Konzept der Suchtbehandlung, das vorsieht, das Suchtmittel zu vermeiden, wäre hier voll im Sinne der Patienten. Findet den Fehler! In den meisten (nicht in allen) psychosomatischen Kliniken lernen Betroffene von ihren Ärzten und Therapeuten, dass das, was sie haben, aus oben genannten Gründen so ist. Und dass sie quasi selbst schuld sind an ihrer Misere, u.a. weil sie nicht heilen wollen. Überholtes Wissen ist gängige Praxis, wen interessieren da die S- III- Leitlinien und die weltweit größten Anorexie- Studien von Bulik und Kollegen! Und so suchen die Patienten mehr oder weniger bereitwillig in unzähligen Stunden, in jeglichen therapeutischen Konstellationen, nach den Schuldigen- und nach dem Sinn ihres selbstdestruktiven Tuns. Und wer suchet, der findet. Man selbst ist ein kompletter Versager mit einem gemeinen Vater, einer Obergluckenmutter, mobbenden Mitschülern und hat ein Lebenstrauma, weil das dieser Misere zwangsläufig folgen muss. Um das alles auszuhalten, hat man sich die AN ausgesucht. Ja, nicht selten übernimmt die AN tatsächlich eine Coping Funktion, um besser mit schwierigen Lebensumständen umgehen zu können. In der Regel NACH ihrem Beginn, nicht vorher. Mobbende Mitschüler gibt es zuhauf und nicht jeder, der ihnen begegnet, wird AN, weil gedizzed werden auf den Appetit schlägt. Fiese Klassenkameraden sind nicht die Ursache! Macht es Sinn, die Therapeuten darauf hinzuweisen, dass die eigene Wahrnehmung nicht mit deren Annahmen übereinstimmt? Nein. Denn als AN hat man eine Psychomacke, die in einer Essmacke resultiert und keine Lobby. Tatsächlich wird jeder paranoide Psychotiker und jeder antisoziale Verbrecher in seinem Erleben ernster genommen als ein Mensch mit einer Anorexie. Falsche Annahmen über diese Erkrankung, gerade beschriebenes Vorgehen und die Verweigerung, den Patienten eine Stimme zu geben und diese ernst zu nehmen, kosten Leben. Wenn Betroffene nicht wissen, was ihre Krankheit ausmacht, was Ursache und Wirkung ist, werden sie unter falschen Annahmen „gesund“. Und tragen diese Erkenntnisse die Welt. Ein weiteres Problem, denn so haben aktuelle Erkenntnisse keine Chance. Wie soll sich State oft the Art Wissen durchsetzen, wenn die mehrfach gehirngewaschenen AN- Erkrankten selbst propagieren: „Problem identifiziert, Seele gut, alles gut und intuitive Ernährung ist der Weisheit letzter Schluss. Ich esse, was ich will und wann ich will und wenn mein Körper mir sagt, kein Hunger, kein Frühstück, dann ist das intuitiv“. Nicht im Falle einer AN! Falsche Annahmen kosten Lebenszeit und sie blockieren, solange sogar diejenigen, die diese Krankheit haben, glauben, dass sie erkrankt sind, weil mit ihrer Psyche etwas Grundlegendes nicht stimmt, das in Ordnung gebracht werden muss, um zu heilen. Psychotherapie als Beiwerk mit dem richtigen Ansatz ist wichtig, aber sekundär. Nur schnelle, konsistente und lebenslang ausreichende (Wieder-)ernährung nach dem Prinzip der Auflösung sämtlicher anorektischer Regeln, ist der Schlüssel zur Gesundheit. Weil wir gerade dabei sind, noch ein Wort zur Heilungsstatistik: 50 % und mehr Heilungsquote? Wie viele retrospektive Studien habt Ihr gemacht? Wie viele Patienten habt ihr nach 10 Plus Jahren nochmal gecheckt? Wenn Ihr Heilung definiert, wie einer der Therapeuten, dessen Elternbrief ich vor einiger Zeit gelesen habe: „Sie spricht mit anderen Menschen, sie geht zur Schule und sie isst“, dann sind fast alle schwer erkrankten AN eigentlich gesund. Mal abgesehen davon, dass Betroffene, die nie gelernt haben, wo sich ihre AN überall zeigt, lediglich ein subjektives Befinden äußern können- und das ist bei einer semi-geheilten AN oft gar nicht so schlecht. Schließlich macht man Sachen wie Sport und wenig Essen mit einer Leichtigkeit, die alle beneiden. Mal ganz abgesehen von der Figur, die häufig daraus resultiert. Tatsächlich findet man einen Großteil der AN mit einem „Luxusbody“ in Sportlerkreisen. Dieses Verhalten bekommen sie entsprechend wertschätzend kommentiert, von den Ahnungslosen unter den Mitmenschen. Der AN geht´s damit gut, dem darauf gründenden Selbstwert auch. Aber geheilt ist man nicht, weil auch dieses Konstrukt auf einer falschen Heilungsannahme basiert, während die AN weiter ihr Unwesen treibt. Dazwischenkommen darf nichts, bei der ersten handfesten Krise übernimmt die Krankheit- und gefährdet wieder ein Leben. Wie lösen wir das auf, wir kleinen Lichtlein hier? Wie durchbrechen wir den Teufelskreis der falschen Annahmen? Wir fangen da an, wo wir Chancen haben: Bei den Eltern betroffener Kinder und bei deren Kindern, die wir schnell wiederernähren und denen wir bestenfalls im Home- Treatment beibringen, was die AN ist, was sie macht und wie sie besiegt werden kann. Bei Betroffenen, die steckenbleiben und weiterkommen wollen, mit einem anstrengenden, aber wirkungsvollen Ansatz. Bei den Patienten, die sich uns anvertrauen, die aus den Kliniken kommen und erstmal umlernen müssen. Die zu gerne dazu bereit sind, weil sie endlich spüren, dass sie keine Versager sind, die Essen nicht auf die Reihe kriegen, obwohl sie doch schon lange zu wissen glauben, wofür ihre AN ihnen dient. Bei den Therapeuten und Ärzten, die offen sind, die alten Zöpfe abzuschneiden, dazuzulernen und sich der schwierigen, frustrierenden Aufgabe annehmen, sich bei ihren Kollegen Gehör zu verschaffen. Durch Öffentlichkeitsarbeit, wie wir sie im Netzwerk und auf dem Blog hier betreiben, immer mit dem Ziel, die Heilungsquote eines Tages auf echte 50 % und mehr anzuheben und präventiv so einzuwirken auf Eltern und junge Kinder, dass eine AN gar nicht erst auftritt. Das Wichtigste, das man dafür braucht, ist das, was die meisten gesunden Kinder eh lieben: Pommes, Eis und Schoki 😉