Im letzten Beitrag habe ich über die für Menschen mit Anorexie so typische Tendenz zu „zu wenig“ geschrieben.

Der englische Begriff dafür ist „Restrictive Mindset“, das sehr eng verbunden ist mit dem sog. „Scarcity Mindset“, also den angstvollen Gedanken. Ein angstvolles/restriktives Mindset erkennt man daran, dass die Gedanken ständig darum kreisen:

  • was man haben möchte, aber nicht hat
  • was man tun möchte, aber sich nicht traut aka „nicht kann“
  • was man haben könnte, aber aus Angst vermeidet
  • was man ändern müsste, aber lieber nicht angeht, weil das Gewohnte sich sicherer anfühlt, egal wie schädlich es ist
  • was man zwar hat, aber verlieren könnte etc….

Folglich kann man sich bald nicht mehr konzentrieren, nicht mehr schlafen, sich nicht mehr mit anderen verbinden, weil man alles diesen Gedankenloops unterordnet (= obsessive thinking/Zwangsdenken). Die zwanghaften Gedanken, die aus einem ängstlichen und restriktiven Gehirn entspringen, sind also nicht einfach nur lästig:

  • Sie führen zum Tunnelblick
  • Sie lenken den Fokus immer zu dem, was andere tun, denken oder sind und damit weg von eigenen Bedürfnissen und Stärken
  • Sie verhindern jede Art von Erfolg, egal, wie sehr man sich bemüht
  • Sie stehlen den Selbstwert
  • Der IQ sinkt
  • Und diese angstvolle „zu wenig“ Mentalität wirkt negativ auf die exekutiven Gehirnfunktionen, also auf die Fähigkeiten, Probleme zu lösen, sich etwas zu merken, sinnvolle Begründungen zu finden, zu entscheiden, zu planen, zu fokussieren, etwas sein zu lassen oder mit etwas zu beginnen. Oft genug schreibt man diese Probleme bestimmten Charaktereigenschaften zu oder einem geringen Selbstwert.

Tatsächlich ist es wohl andersherum: Der negative Selbstwert bei Anorexie, die Tendenz zu zu wenig, entstehen vermutlich durch die mangelernährungsbedingten Umbauten im Gehirn, das Hunger- induzierte, reduzierte, enge Denken, dem daraus folgenden eingeengten Leben und dem damit verbundenen Mangel an Erfahrungen, an positivem Erleben und an Selbstwirksamkeit.

Menschen mit einer Anorexie sind in der Regel vorsichtige, abwartende, risikovermeidende Persönlichkeiten. Das sind angeborene und eigentlich positive Charaktereigenschaften, die sich jedoch während der AN krankhaft verstärken und sich in Verhaltens- und Denkweisen etablieren, die auch nach Refeeding oft bleiben. Ein trotz und nach der Wiederernährung restriktives, auf Angst und Mangel ausgerichtetes Denken macht vollständige Heilung von einer Anorexie nahezu unmöglich. Denn dafür braucht es das Gegenteil, nämlich Fülle, nicht nur beim Essen, sondern als Lebensphilosophie, ein „Abundance Mindset“, ein großzügiges und offenes Denken und Handeln gegenüber sich selbst und anderen. Deshalb gehört es unbedingt zum Recoveryprozess, auch an diesen Themen zu arbeiten, denn sie verschwinden nur durch Erkennen ihrer Muster und durch Weg-Üben:

  1. Konzentriert Euch auf das, was Ihr erreicht habt, nicht auf das, was noch fehlt:

Recovery ist nicht linear und betrifft das ganze Leben. Es geht rauf und runter und manchmal möchte man aufgeben, weil Veränderung so langsam passiert und man denkt, es lohnt sich nicht. Man ist das letzte Einhorn, das es nicht schaffen wird. Schaut auf das, was Ihr geschafft habt und konzentriert Euch dabei nicht nur auf die Essensthemen. Geht Euren weiteren Weg in machbaren Schritten, die gleichzeitig herausfordern und Erfolgserlebnisse verschaffen.

  1. Visionen und Ziele:

Was wollt Ihr erreichen, wer und wie wollt Ihr sein? Visualisierung nimmt für das Gehirn Tatsachen vorweg und macht so das Erreichen von Zielen leichter. Wichtig dabei ist es aber, Euch nicht nur auf das große Ziel zu konzentrieren, sondern es zu zerlegen in erreichbare Meilensteine, die erst visualisiert und dann natürlich unbedingt auch in Taten umgesetzt werden müssen. Habt Geduld. Mini- Stepps dauern länger aber sie führen sicherer zu dem Ergebnis, das Ihr Euch wünscht. Geht erst weitern, wenn Ihr einen Schritt sicher beherrscht.

  1. Das Wichtigste zuerst

Priorisiert immer das, was Euch wirklich wichtig ist (siehe Punkt 2) und lasst Euch nicht ständig verleiten zu kopflosen Reaktionen auf scheinbar Dringendes (das meist von anderen für Euch priorisiert wird und auch gerne mal der Aufschieberitis in die Arme spielt).

  1. Unterscheidet Eure eigenen Bedürfnisse von dem, was sich andere für Euch wünschen oder vorstellen:

Junge Menschen, die finanziell abhängig sind von ihren Eltern, fühlen sich oft genötigt, sich den Vorstellungen der Eltern unterzuordnen, vor allem dann, wenn die Eltern Geld als Druckmittel benutzen, um ihren Kids ihre Vorstellungen von deren Leben und Zukunft aufzudrücken.

Es ist schwierig, sich davon freizumachen, wenn man nicht eigenständig für sich sorgen kann.

Wenn Ihr in dieser Situation seid, hilft offene Kommunikation. Nur wenn Eure Eltern wissen, wie es Euch wirklich geht und was Ihr gerade braucht, könnt Ihr gemeinsam einen Weg finden. Und macht Euch bewusst, ob Ihr nicht vielleicht die Wünsche oder Ansprüche Eure Eltern vorschiebt, um bestimmte Dinge nicht angehen oder verändern zu müssen, weil Euch das Angst macht. Es ist oft leichter zu sagen: „Meine Eltern lassen das nicht zu“ als aktiv eine Veränderung herbeizuführen.

  1. Seht in Euren Mitmenschen Unterstützer, keine Konkurrenten:

Umgebt Euch mit Menschen, die Flexibilität, Toleranz und Gegenseitigkeit können, die Euch unterstützen und weiterbringen und sich auch von Euch helfen und fördern lassen. Seid mutig genug, kluge und richtige Fragen zu stellen und andere in manchen Dingen besser sein zu lassen. Nutzt den positiven Lerneffekt des Vergleiches, lernt von anderen, anstatt Euch selbst klein zu machen, weil Ihr etwas noch nicht könnt.

  1. Erst verstehen, dann verstanden werden:

Recht haben wollen und seine eigene Sicht vermitteln wollen sind verständliche Bedürfnisse, doch beides führt nicht zu Offenheit, Freizügigkeit und Toleranz. Interessiert Euch für die Perspektive des anderen, kommuniziert durch Fragen und ehrliche Anteilnahme. Lasst ausreden. Hört zu, um zu verstehen, nicht um zu reagieren oder gar, um Euch zu verteidigen, und seid empathisch (einfühlsam). Lernt, nicht immer das letzte Wort haben zu müssen.

  1. Achtet auf ein ausbalancierte Leben:

Sorgt dafür, dass Anspannung und Entspannung ausgeglichen sind. Nehmt Euch Zeit für Euch selbst, ohne Ablenkung durch andere oder durch Aufgaben. Findet heraus, was Euch wirklich guttut und gebt dem einen festen Platz in Eurem Tagesplan. Nur wer ausgeglichen lebt, lebt zufrieden und hat genug Kapazität und Energie für das, was das Leben öffnet und bereichert.

  1. Seid pro-aktiv:

Das ist wohl der wichtigste Punkt.

Proaktiv sein heißt, Verantwortung für Euer Leben und damit für Euer Handeln und Eure Entscheidungen zu übernehmen. Proaktive Menschen erkennen, dass sie «reaktionsfähig» sind. Sie machen nicht die Umstände, Bedingungen oder Konditionierungen für ihr Verhalten verantwortlich. Sie wissen, dass sie ihr Verhalten selbst bestimmen können, im Gegensatz zu reaktiven Menschen, die dem Motto „was denken die anderen“ folgen oder die äußeren Umständen oder anderen die Schuld geben, wenn sie ihre Ziele nicht erreichen, schlechte Stimmungen haben usw.

Ihr seid nicht Opfer Eurer Umgebung, Eurer Mitmenschen oder Eurer Gedanken. Wir haben alle die Freiheit, zu wählen, wie wir reagieren oder ob überhaupt.

Proaktiv sein bedeutet auch, auf Eure Sprache zu achten, denn Worte wirken:

Ich kann

Ich werde

Ich entscheide

anstatt:

Ich muss

Wenn…dann

Erst wenn…

Ich kann nicht, weil

Das kann man sehr gut üben, wenn man Tagebuch schreibt.

Proaktive Menschen konzentrieren ihre Bemühungen auf die Bereiche, die sie beeinflussen können, nicht auf das, was außerhalb ihrer Macht liegt und umso mehr Angst macht, je länger man darüber grübelt. Und: Sie lassen sich helfen.

Ein offener Geist, ein Leben in Fülle und Ausgeglichenheit sind keine Zauberwerke. Sie wachsen aus der Erkenntnis, kein Opfer seiner Selbst und seiner Lebensumstände zu sein.

Ein „Abundance Mindset“ ist das Resultat selbstverantwortlicher Entscheidungen und eigenverantwortlichen Tuns.