TBT als neuer Therapieansatz

 

Bis vor wenigen Jahren ging man davon aus, dass Essstörungen rein psychosoziale Erkrankungen sind. Man betrachtete das Essverhalten Betroffener symptomatisch und funktional, und hier setzten auch die therapeutischen Interventionen an. Mit reichlich wenig Erfolg. Der Fokus auf der Problemfindung kostete viele Essgestörte wertvolle Zeit und führte nicht selten zur Chronifizierung.

Und leider lese ich immer noch viel zu oft in Profilen von Hilfsangeboten:

„Es geht nicht ums Essen“.

Doch, geht es. Nicht nur, aber in erster Linie, und insbesondere bei AN.

Dank neuerer Studien, insbesondere den Forschungen von Dr. Walter Kaye und Cynthia Bulik, wissen wir das heute. Am besten erforscht ist die Anorexia Nervosa. Ich habe schon einiges dazu geschrieben.

Hier nochmal kurz eine Zusammenfassung:

Heute kann man sicher sagen: Essstörungen sind Bio- Psycho- Soziale Erkrankungen. Bio bedeutet: Die Genetik, einschließlich des Temperamentes, ist der Risikofaktor und Restriktion der Nahrung ist der primäre Auslöser. (Nicht, wie früher gedacht, ein Problem, das die Psyche durch zu viel oder nicht essen ausdrückt.)

Durch das genetische Profil entstehen bei Mangelernährung (insb. bei AN) Veränderungen im Gehirn, u.a. im Dopamin- Opioid Kreislauf, sodass Essen bei AN nicht mehr belohnend, sondern angstvoll erlebt wird. Diese Angst projiziert sich auf den Körper und die Körperwahrnehmung. Man sieht das, wovor man Angst hat. Daraus entsteht schnell eine Gewichtsphobie. Das Verhalten, das zur Angstvermeidung etabliert wird, wird das neue Normal. Je häufiger es wiederholt wird umso mehr neuronale Bahnen entstehen, die es festigen. Der Einfluss der Umgebung als sozialer Faktor und das psychische Erleben (Komplimente, Stressvermeidung, unsichtbar werden, Sorgen betäuben) bestätigen zunächst sowohl das Aussehen als auch das Verhalten. Diese Faktoren wiederum tragen dazu bei, dass sich das neu Gelernte noch intensiver und nachhaltiger festsetzt, bis es zu einer automatisierten Handlung wird. Diese kann nur durchbrochen werden, wenn Betroffene ein Bewusstsein entwickeln für das was sie tun, dadurch merken, wann und wenn sie es tun, und in mühsamer Arbeit durch gegensätzliche Aktionen wieder lernen, gesunde Verhaltensweisen dagegenzusetzen und zu festigen.

 

Change Needs Actions.

Diese Erkenntnisse machen es notwendig, Psychotherapie für Menschen mit Essstörungen neu zu denken.

TBT ist eine dieser psychotherapeutischen Neuerungen. Die wesentlichen Säulen des Temperament Based Treatment with Support sind:

 

ESSEN. DENN ES GEHT UMS ESSEN:

Essen ist das Medikament der Essgestörten.

TEMPERAMENT:

Man muss das Temperament, den Charakter, würdigen und damit arbeiten, anstatt den Patienten das Unmögliche zu raten, ihre Eigenschaften zu verändern.

BEWEGUNG:

Lernen braucht Bewegung. Bewegung (nicht Sport/Leistungssport) ist ein zentraler Faktor, wenn man Verhalten ändern und etablieren will. Durch Bewegung wird der plastischste Teil des Gehirns, der Hippocampus, angeregt, neue Informationen zu speichern.

UMFELD:

Menschen mit Essstörungen brauchen ein unterstützendes Umfeld, das ein gesundes (ESS)verhalten fördert.

Ein vordergründiges Ziel des Temperament Based Treatment ist also, neben der Arbeit am Essverhalten und an der Gewichtsstabilisierung, die Patienten dafür zu sensibilisieren, ihre Charaktereigenschaften zu erkennen und zu würdigen und mit ihnen gemeinsam Strategien zu entwickeln

  • ihr Umfeld und ihre Umgebung so zu gestalten, dass heilungsfördernde Verhaltensweisen gelernt und gefestigt werden können

und

  • ihnen zu helfen, ihre angeborenen Eigenschaften für sich zu nutzen, anstatt sie gegen sich zu richten

Dazu bedient sich diese Methode aus Elementen der verhaltenstherapeutischen Ansätze wie: DBT, TBT und ACT, d.h. Gedanken und deren Handlungsfolgen identifizieren, überprüfen, neu bewerten und mit Aktionen das Verhalten ändern.

Beispiele für die therapeutische Arbeit mit TBT:

Essen:

Man hat beobachtet, dass viele Anorexie Patienten charakterlich zu eher rigidem und ritualisierten Verhalten neigen und tendenziell immer dasselbe in denselben Mengen zu denselben Zeiten essen. Sie haben Schwierigkeiten, sich zu entscheiden, was sie essen wollen und diese Unsicherheit wiederum steigert die Angst, die dann Hunger und Appetit unterdrückt. Gemäß TBT bringt man Menschen mit dieser Essstörung bei, wie sie ihre Nahrungsmittel so auswählen können, dass eine gewisse überschaubare Vielfalt vorhanden ist, die sie in jeder Hinsicht ausreichend ernährt, anstatt sie dazu zu motivieren, sich größtmöglich zu flexibilisieren. Denn das wird selten gelingen. Auch intuitive Ernährung ist für viele Anorexie Patienten eine Gratwanderung.

TBT arbeitet am Essverhalten, indem sie anerkennt, dass diese Menschen mit einem Temperament geboren wurden, dass sie Unsicherheiten schwer aushalten lässt, denen Neues und Spontanes eher Angst macht, und sucht konstruktive Lösungen, wie Patienten damit selbstwirksam umgehen können.

Dieses Therapiemodell eignet sich auch für Menschen im Spektrum. Viele Autisten, auch ohne Anorexie, werden sich im o.g. Beispiel wiederfinden. Ich selbst habe meine Schwierigkeiten mit Hunger, Appetit und damit mit dem Essen auf genau diese Weise gelöst, noch bevor ich wusste, dass das sogar eine Therapiemethode ist. Ich habe den Druck rausgenommen, ich müsste superspontan zu jeder erdenklichen Zeit essen können, was mir gerade über den Weg läuft. Ich habe nach x frustrierenden Versuchen verstanden, dass das für mich nicht funktionieren kann UND ich auch nicht darauf warten darf, dass sich Hunger und Appetit einstellen. Stattdessen habe ich mir eine Auswahl an Lebensmitteln buchstäblich erarbeitet, die ich kombinieren kann, die mir nicht viel Arbeit machen, die mich aber ausreichend versorgen. Ich habe außerdem daran gearbeitet, auch mal angepasst an andere zu essen. Aber auch das ist kein „das muss ich doch können“ mehr.

Allein, mir zu erlauben, es so gestalten zu dürfen, wie es meinem Charakter, meinem Sein und meinen Vorlieben entspricht, nimmt eine Menge Druck raus.

Temperament:

Ein weiteres Beispiel ist die Neigung zu Perfektionismus, die insb. bei vielen Anorexikern und Orthorexikern zu finden ist.

Perfektionismus kann man nicht „sein lassen“. Dieses Charaktermerkmal kann Betroffenen sehr im Weg stehen, wenn z.B. Ernährungsregeln so perfekt ausgeführt werden müssen, dass am Ende so gut wie kein Lebensmittel mehr gut genug ist.

Perfekte Recovery gibt es auch nicht. Wer das anstrebt, der muss zwangsläufig verzweifeln.

Anderseits sind die Perfektionistischen aber auch die Beständigen, die Vorhaben recht konsequent verfolgen. Erarbeitet man mit ihnen realistische und erreichbare Ziele, die nach und nach ihre Glaubenssätze auflösen können, sind die Perfekten unter den Essgestörten häufig auch diejenigen mit den größten Heilungschancen.

Lernen/Verhaltensweisen ändern:

Wer z.B. immer nach oder vor dem Essen joggen geht, muss ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass er das tut. Dann geht es erstmal nicht darum, warum er das tut, sondern um das gezielte Etablieren machbarer, alternativer Handlungen. Man könnte stattdessen einen Freund anrufen, sich verabreden oder mit jemandem Spazieren gehen, der das Tempo vorgibt, wenn es noch zu schwer ist, das Laufen sein zu lassen.

Bewegung:

Viele Essgestörte haben einen immensen Bewegungsdrang. Den produziert zum einen das hungrige Gehirn und zum anderen ist er eine Folge der Angst. In der Regel reduziert sich diese Obsession automatisch bei einem besseren Ernährungszustand. Ausreichend ernährtes Gehirn = weniger angstvolles Gehirn.

Dennoch ist es gerade für die obsessiven Sportler wichtig, intensive Bewegung erstmal sein zu lassen, um Körper und Gehirn Zeit zur Heilung zu geben. Das bedeutet aber nicht, bewegungslos auf dem Sofa liegen zu müssen. Zumindest dann nicht, wenn man nicht extrem untergewichtig ist. Spazierengehen ist durchaus erlaubt, wohl dosiert natürlich. Das hilft wie gesagt, Gelerntes zu festigen. Später, im Verlauf der Genesung, ist auch gegen Sport nichts mehr zu sagen, in Maßen und zum Spaß, nicht als Gegenmaßnahme für das Gegessene.

Umfeld:

Diese Therapiemethode heißt deshalb TBT– S(upport), weil sie sich nicht nur an die erwachsenen Betroffenen richtet, sondern gezielt deren Helfer, Familien und Freunde mit einbindet.

Das Konzept wurde übernommen von dem Ansatz des Family Based Treatment, das für essgestörte Kinder und deren Familien entwickelt wurde.

TBT -S geht davon aus, dass Essstörungen nur heilen und beständig geheilt bleiben können (im Sinne einer dauerhaften, vollständigen Remission), wenn auch erwachsene Betroffene von ihrem Umfeld entsprechend unterstützt werden. Freunde, Partner und Eltern bekommen bei TBT- S das, was man Coedukation nennt. Sie werden aufgeklärt über Risikofaktoren und Auslöser und instruiert in der Unterstützung von Verhaltensänderungen und Mahlzeitenbegleitung (Meal- Support), also darin, wie sie dazu beitragen können, dass maladaptive Essgewohnheiten, Fear-Foods und Co. ihre Macht verlieren.

TBT ist meiner Meinung nach eigentlich ein optimaler Ansatz. Mit dem Temperament zu arbeiten, anstatt zu versuchen, etwas auszumerzen, das angeboren ist, ist die einzige Chance für eine realistische Veränderung. Alles andere bringt Versagen, Frust und Entmutigung.

Aber, und hier komme ich zu den limitierenden Faktoren:

Gibt es TBT für Essstörungen in Deutschland? Ich wüsste nicht! Beim Thema „Wo sind die wirkungsvollen Therapien und die geschulten Therapeuten“ drehen wir uns immer und immer wieder im Kreis.

Und:

Elemente des Family Based Treatment auf Erwachsene zu übertragen, das hinkt. FBT wirkt, weil Eltern unter enger Anleitung die Verantwortung für die Ernährung ihrer noch im Haushalt lebenden Kinder komplett übernehmen, bis diese wieder in der Lage sind, eigenständig angstfrei und ausreichend zu essen.

Erwachsene mit Essstörungen dagegen, leben oft nicht mehr in Familienbezügen, sondern im Gegenteil, ziemlich isoliert. Dazu kommt, dass Bekannte, Freunde und auch Familie alle ein Teil unserer Kultur sind und die Wenigsten bereit sind, ihre eigenen Regeln rund um Ernährung zu hinterfragen, geschweige denn aufzugeben. Nachvollziehbar aus deren Perspektive. Aber eine Freundin/ein Freund, der/die jeden Monat drei Tage nur Wasser trinkt, ist für Menschen mit Essstörungen genauso wenig eine Hilfe, wie vegane Therapeuten, intervallfastende Coaches und Eltern oder Geschwister, die sich ketogen ernähren.

Das S für Support ist für Erwachsene vermutlich häufig unerreichbar.

Das ist ein unbefriedigender Schlusssatz.

Trotzdem finde ich den Ansatz des TBT auch für die Selbst-Hilfe sehr nützlich. Ihr könnt auch ohne Therapeuten ein Bewusstsein für Eure Verhaltensmuster entwickeln und nach und nach gegensteuern. Und es gibt keine Veranlassung, das Unmögliche zu versuchen und den Kern Eurer Persönlichkeit aufzulösen und zu ersetzen. Ihr dürft die bleiben, die Ihr seid und dürft lernen, die Merkmale die Euch ausmachen, für Euch zu nutzen, für mehr Selbsttoleranz – und Akzeptanz.