Wenn das eigene Spiegelbild lügt

 

Als das Mädchen 14 Jahre alt war, fing es an. Sie schaute in den Spiegel und fand hässlich, was sie da sah. Ihre Stirn zu hoch, ihre Nase zu lang, überhaupt, die Proportionen passten einfach nicht. Erst dachte sie, sie hätte vielleicht einen schlechten Tag. Oder dass sie vielleicht nur irgendwie unregelmäßig wachsen würde. Dann wäre das Problem ja nach der Pubertät vorbei. Sie fragte ihre Eltern und ihre Freundinnen, ob sie nicht auch fänden, dass sie hässlich sei. Die Antwort war stets dieselbe: „Nein, Du siehst toll aus. Du bist doch so hübsch.“ Sie glaubte ihnen nicht. Wer würde einem anderen Menschen schon ehrlich sagen, dass er hässlich sei. Sie wollten sie doch nur beruhigen.

Nur der Spiegel sagt die Wahrheit.

Stundenlang stand sie davor. Sie betrachtete jedes Detail ihres Gesichtes, und wurde immer verzweifelter. SO konnte sie nicht mehr aus dem Haus gehen. SO konnte sie sich niemandem zumuten. Sie sagte Verabredungen ab, ging nur noch raus, wenn es nicht zu vermeiden war, nicht ohne vorher ihr Gesicht hinter Makeup, Schals und ihren langen Haaren zu verbergen. Sie wurde immer einsamer. Alle sagten, sie würde sich ihr Aussehen nur einbilden, sie solle sich nicht so anstellen. Der Gedanke an ihr offensichtlich doch so hässliches Gesicht verfolgte sie Tag und Nacht. Da war kein Platz mehr in ihrem Kopf für Schule und keine Energie für Hobbies und Freunde. Wer würde auch mit so einem hässlichen Menschen etwas zu tun haben wollen!

Im Fitnessstudio steht ein junger Mann vor einem großen Spiegel und trainiert seinen Bizeps mit einer 10 kg Hantel. Er beobachtet das Muskelspiel seines Armes und findet sich viel zu schmächtig. Total unmännlich. Sein Körper, ein Strich in der Landschaft. So sieht er sich. Seit Wochen trainiert er jeden Tag, Muskelzuwachs ist das Ziel. Seinen Ernährungsplan hält er akribisch ein. Eiweiß, Fett und Kohlenhydrate werden exakt berechnet, alle Vitamine und Spurenelemente stehen in richtigem Verhältnis. Es gibt keine Ausnahmen, nicht vom Sport und nicht vom Essensplan. Arbeit, Hobbies und Freunde werden seinem Training untergeordnet. Er ist besessen von seinem Körper. Jeder Gedanke gilt seiner Optimierung. Es ist nie genug.
Steroide seien leicht zu haben, hat er gehört. Und sie wirken. Garantiert. Er nimmt sie, erst noch vorsichtig, irgendwann in hohen Dosen. Es ist nie genug.
Seine Trainer und Kumpels warnen ihn. Zu aufgepumpt und zu ungesund sehe er aus. Er ignoriert ihre Worte und die Zeichen seines Körpers. Denn so wie das junge Mädchen, kann auch er sich nicht vorstellen, dass sein Spiegelbild lügt.

Body Dysmorphia (BDD) oder Körperschemastörung ist eine psychische Erkrankung, die meist in der Pubertät beginnt. Beide Geschlechter sind ungefähr zu gleichen Anteilen betroffen.

Die Symptome variieren individuell. Manche finden ihr ganzes Gesicht unproportioniert oder ihre Sommersprossen zu dunkel. Sie stören sich an kleinsten Narben, finden ihre Haare hässlich oder ihre Knie zu knubbelig.

Bei Männern fokussiert sich die Störung oft auf den Körperbau und die Muskulatur. „Bigorexie“ ist der Fachbegriff. Da Ernährung auch bei dieser Problematik eine überdimensionierte Rolle spielt, kategorisiert man diese Unterform der Körperschemastörung als Essstörung.
Bigorexie gilt als Umkehrung der Anorexie. Anorexie Patienten sehen sich fälschlicherweise oft zu dick, Bigorexiker halten sich für zu dünn.

Die Fehlwahrnehmung des eigenen Aussehens führt nach und nach zu einer Reihe weiterer psychischer Symptome, die sich erheblich auf die Lebensqualität auswirken können. Kontrolle auf der einen und Vermeidung auf der anderen Seite kennzeichnen das Verhalten.

  • Permanentes „Body Checking“ im Spiegel oder
  • Verweigerung, das eigene Spiegelbild/Fotos anzuschauen
  • Besessenes Nachdenken über den „Fehler“ des Körpers
  • Zwanghaftes Rückversichern bei anderen über deren Wahrnehmung ihres scheinbaren Makels
  • Davon überzeugt sein, dass alle finden, man sei hässlich
  • Ständiges Kontrollieren, Anfassen, Abmessen der betroffenen Körperpartien
  • Auftragen von auffälligem Makeup
  • Häufige Arztbesuche, vor allem bei Dermatologen und Schönheitschirurgen
  • Zahlreiche Schönheitsoperationen
  • Einnahme von gefährlichen Medikamenten
  • Ständiges Kleiderwechseln
  • Exzessives Training
  • Vermeidung sozialer Situationen, sozialer Rückzug
  • Ausgeprägte Schamgefühle
  • Verheimlichen und/oder überspielen der zwanghaften Handlungen und Gedanken
  • Nachlassende Konzentration, Absinken der Leistungsfähigkeit
  • Depressionen, Angststörungen und weitere Zwänge

Weil BDD häufig mit Zwangshandlungen verbunden ist, fällt sie unter das Spektrum der Zwangsstörungen. Sie sind gekennzeichnet durch Gedankenkreisen, Ängste und durch Verhaltensweisen, die zwanghaft ausgeführt werden müssen.

Manchmal treten Körperschemastörungen auch als Komorbiditäten anderer Erkrankungen auf. Essstörungen und soziale Phobie sind hier führend zu nennen

Man unterscheidet drei Schweregrade der BDD:

Patienten mit einer guten Selbsteinschätzung: Sie wissen, dass das, was sie selbst sehen, nicht der Realität entspricht.

Patienten mit einer schlechten Selbsteinschätzung: Sie ahnen, dass sie sich selbst nicht realistisch wahrnehmen, trauen den Aussagen anderer aber nicht.

Patienten, denen jegliche realistische Selbsteinschätzung fehlt: Sie sind davon überzeugt, dass nur ihre eigene Sicht auf ihr Aussehen stimmt.

Auch Body Dysmorphia ist eine bio- psycho- soziale Erkrankung.

Es sind oft mehrere Familienangehörige betroffen. Das lässt auf eine genetische Komponente schließen. Die Gehirne Betroffener weisen eine erhöhte Aktivität in den Bereichen auf, die für Detailwahrnehmung zuständig sind. Diese Menschen sind vermutlich weniger gut in der Lage, Teile ihres eigenen Spiegelbildes als Ganzes zu sehen. Details werden dadurch möglicherweise überdimensional eingeschätzt.

  

Soziale und psychologische Auslöser können sein:

Persönlichkeitsmerkmale wie Selbstunsicherheit, geringes Selbstwertgefühl, Perfektionismus und Leistungsstreben

Das Gefühl, schon früh im Leben den Ansprüchen der Eltern oder anderer Bezugspersonen genügen zu müssen, etwas leisten zu müssen, gut genug sein zu müssen, gut aussehen zu müssen usw.

Jede Form von Trauma

Soziale Medien, die ein narzisstisch geprägtes, oft unerreichbares (körperliches) Ideal vorgeben.

BDD wächst sich nicht aus. Die Erkrankung verschwindet nicht von selbst. Die Wahrscheinlichkeit schwerwiegender Komorbiditäten, wie Depressionen, Angst- und weiterer Zwangsstörungen steigt mit der Dauer der Erkrankung. Nachdem viele Betroffene ihre Symptome geheim halten, kann eine Behandlung oft erst begonnen werden, wenn der Leidensdruck schon sehr hoch ist. Die Störung ist in jeder Phase gut behandelbar, eine frühzeitige, korrekte Diagnose und Therapie könnte den Patienten jedoch viel ersparen.

Behandelt wird die Erkrankung in der Regel mit einer Kombination aus Verhaltenstherapie und Medikamenten. Antidepressiva, vor allem Fluoxetin und Citalopram in relativ hoher Dosierung zeigen laut Fachärzten eine hervorragende Wirkung. Sie machen schwer Betroffene oft erst therapiefähig.

Verhaltenstherapie konzentriert sich auf die Reduzierung der Ängste und Zwangshandlungen, das Umlernen der Verhaltensweisen, die die Erkrankung aufrechterhalten und auf die Modifizierung der Lebensumstände, damit Heilung möglich ist und Rückfälle verhindert werden können.

Links:

Body Dysmorphia Selbsttest

Sportpsychiatrie (Bigorexie)

InStyle Bigorexie