Schauen wir auch für dieses Thema mal wieder auf unser altes Gehirn: Evolutionsbiologisch war die Akzeptanz der Gruppe existenziell für den Einzelnen. Schuld- und Schamgefühle waren und sind ein Zeichen affektiver Empathie (= Mitgefühl). Und ein mitfühlendes Gruppenmitglied, das sich selbst reflektieren konnte in seiner Wirkung auf andere, bedeutete wenig Gefahr. Es durfte sich in der Gemeinschaft sicher fühlen.

Auch heute ist es so, dass Schuld- und Schamgefühle, aka Moral, einen einfühlsamen Menschen ausmachen. Wir sehen an Soziopathen und Narzissten was passiert, wenn diese emotionalen Fähigkeiten fehlen. Diese Menschen verfügen zwar über ein hohes Maß an kognitiver Empathie (= Perspektivenübernahme), doch der affektive Teil ist unterentwickelt. Diese Kombination macht es ihnen möglich, andere hervorragend einzuschätzen und damit auch zu manipulieren oder gar zu verletzen, ohne jedes schlechte Gewissen, ohne Schuld und Scham. Schuld sind immer die anderen. Und dafür sollten sie sich auch schämen.
Ich vermute, jede/r von Euch hatte schon einmal das zweifelhafte Vergnügen mit solch einem skrupellosen Zeitgenossen. Ich möchte mit diesem Schlag Menschen nichts zu tun haben und so sein will ich schon gar nicht.

Doch wo liegt nun wieder die gesunde Mitte?

Gehört Ihr zu denen, die sich schon morgens vor dem Aufstehen schuldig fühlen, nur weil es draußen regnet?

Denkt Ihr ständig darüber nach, ob Ihr andere vielleicht gekränkt haben könntet?

Nehmt Ihr jeden Schuldvorwurf sofort auf Euch?

Zweifelt Ihr oft an Euch?

Analysiert Ihr Euch permanent, ob Ihr gut genug seid?

Fühlt Ihr Euch schuldig, weil Ihr einen Gedanken habt, den Ihr eigentlich moralisch verwerflich findet?

Denkt Ihr, Ihr seid verantwortlich für die Stimmung anderer?

Was ist, wenn eine Kleinigkeit nicht optimal läuft? Macht Ihr dann ein riesen Ding draus, dass Euch vielleicht sogar nachts nicht schlafen lässt?

Entschuldigt Ihr Euch dauernd für etwas, dass gar keiner Entschuldigung bedarf?

Dann seid Ihr am äußeren Rand der ungesunden Schuldgefühle. Den nennt man Schuldkomplex und wie so vieles entsteht dieses Problem in der Kindheit.

Wer sich ständig verantwortlich fühlt, wurde schon früh darauf konditioniert, die Welt aus der „es ist alles meine Schuld“ Linse zu sehen.

Manche lernen Schuldgefühle am negativen Vorbild eines Elternteils, der ebendiese Muster vorlebt. Wenn die Mutter immer beklagt, dass sie an allem schuld ist und zur Wiedergutmachung oder zur Vermeidung eines neuen Fehltritts ständig alles für andere tut, verbindet ein Kind das mit Aufmerksamkeit und Fürsorge.

Oder Kinder aus Sekten, in denen Schuld und Sühne eine große Rolle spielen: Wer sich hier nicht schuldig fühlt, Buße tut und sich für die Gemeinschaft opfert, der wird nicht akzeptiert.

Schuld- und Schamgefühle können auch entstehen, wenn ein Elternteil psychisch instabil oder auch körperlich krank ist und dem Nachwuchs nicht explizit und kindgerecht kommuniziert wird, dass das Befinden der Mutter oder des Vaters nichts mit ihm zu tun hat. Dann kann es passieren, dass es die Schuld bei sich sucht, denn Kinder können bis zum Alter von ca. 7 Jahren nur in Ausschnitten denken, die ihre kleine Welt ausmachen. Das große Ganze sehen sie noch nicht.

Und natürlich suchen Kinder die Schuld bei sich, wenn sie Eltern haben, die ihnen vermitteln, nicht zu genügen. Das mag gar keine böse Absicht sein, doch die Folgen sind fatal. Wer sein Kind nicht liebt, so wie es ist, wer es nie lobt und ständig ermahnt, sein Verhalten kritisiert, seine schulischen Leistungen nicht mal anerkennt, wenn die Note 2 unterm Diktat steht und Emotionen wie Trauer und Ärger nicht zulässt und anerkennt, der verhilft seinem Nachwuchs nicht gerade zu einem selbstsicheren Start ins Leben. Und nicht nur das: Wenn kindliche Emotionen ignoriert oder gar bestraft werden, weil sie anderen unangenehm sind, werden diese Menschen sich auch als Erwachsene immer schuldig fühlen für ihre Empfindungen.

Auch viele spät diagnostizierte Autisten leiden häufig unter Schuldgefühlen. Sie mussten in der Schule oder auch im Elternhaus oft erleben, dass sie stets falsch verstanden wurden und ihnen etwas unterstellt wurde, das sicher nicht in deren Absicht lag.
Wenn es nicht hilft, seine eigene Perspektive darzulegen, weil sie nicht geglaubt wird, dann fängt man schnell an, an sich zu zweifeln. Und manchmal bleibt nur noch Resignation. Dann ist man eben schuld, obwohl man doch gar nichts Falsches gemacht hat.

Dass jede Art von Missbrauch und Trauma zu permanenten Schuldgefühlen führen kann, versteht sich fast von selbst. Wird ein Kind sexuell missbraucht, hat es nicht die Weitsicht, zu erkennen, dass das die Schuld des Täters ist. Und ein Scheidungskind kann auch leicht denken, die gescheiterte Ehe der Eltern liege an seinem Fehlverhalten.

Wenn Schuldgefühle ein täglicher Begleiter sind, dann leidet man. Es ist verdammt schwer, sich gut zu fühlen, wenn man sich ständig sorgt, dass man etwas falsch gemacht oder versäumt haben könnte- und sich heimlich schämt dafür, dass man so unperfekt ist, so menschlich das auch sein mag.
Und nicht nur das: Weil wir immer nach dem suchen, was uns vertraut ist, ziehen wir andere an, die uns in unserem Selbstbild bestätigen. Wer zu Schuldgefühlen neigt, wird Menschen in sein Leben ziehen, die ihm Schuldgefühle machen; weil diejenigen vielleicht genau auf der gegenteiligen Ebene Probleme haben, z.B. damit, ihre Bedürfnisse unmittelbar und klar zu definieren und Verantwortung zu übernehmen für ihre eigenen Emotionen.

Doch warum lassen wir das zu, obwohl wir das Problem vielleicht längst erkannt haben?

Hier schließt sich der Kreis, hier werden wir wieder zu den Urmenschen, die wir einmal waren: Wir machen instinktiv und unbewusst unser Überleben abhängig von der Akzeptanz und Sicherheit der Menschen, mit denen wir leben. Je unsicherer ein Mensch ist, umso mehr lässt er auch die ungerechteste Anklage zu, erlaubt anderen, Grenzen zu überschreiten, zu urteilen und zu richten und ihm zu erklären, wie er zu denken und zu fühlen hat.

Damit geben wir anderen die Macht. Denn niemand kann über unser Selbst und unser Sein verfügen, ohne unser Einverständnis. Keiner kann uns schuldig sprechen, wenn wir es nicht erlauben.

Unser Selbstbild macht den Unterschied, ob wir an uns glauben oder an uns zweifeln. Es ist unsere Entscheidung und unsere Chance, wie wir über uns selbst denken und wie wir mit uns selbst umgehen. Denn das können wir aktiv steuern. Es ist an uns, den Weg zu gehen, den wir für richtig halten und die zu sein oder zu werden, die wir sein oder werden wollen. Es ist unsere Verantwortung, was wir anderen sagen und was wir tun. Aber wir können nicht beeinflussen, wie unser Gegenüber sich damit fühlt oder was es glaubt.

Theoretisch gut und schön, doch wie wird man jetzt die Schuldgefühle los?

Akzeptieren:

Ich habe es oben schon geschrieben: Schuldgefühle und Scham sind normal, solange sie uns nicht in unserem täglichen Leben und in unserem Wohlbefinden behindern. Sie sind ein Zeichen von Empathie und von Moral. Es sind wichtige Eigenschaften, die uns zu Einsicht und Umsicht befähigen und Ausdruck dafür, dass uns andere Menschen und unsere Wirkung auf sie nicht gleichgültig sind.

Fehler passieren jedem. Sie sind menschlich. Würden wir nie etwas falsch machen, könnten wir nichts lernen. (Wer davon überzeugt ist, fehlerfrei zu sein und die Schuld immer bei anderen sucht, ist u.a. deshalb ein schwieriger Kamerad, weil er oder sie nicht mehr lernwillig- und fähig ist.)

Objektivieren:

Schaut Euch die jeweilige Situation genau an:

Was habt Ihr gesagt oder getan?

Was hättet Ihr anderes machen können?

Hättet Ihr es überhaupt anders machen wollen!?

Warum fühlt Ihr Euch schuldig, obwohl Ihr gemäß Eurer Art und Euren Möglichkeiten gehandelt habt?

Wer sagt, dass Ihr etwas falsch gemacht habt?

Neu bewerten:

Nehmt eine andere Perspektive ein. Stellt Euch vor, das, was Ihr Euch vorwerft, wäre einem guten Freund passiert. Wie würdet Ihr die Situation dann einschätzen? Was würdet Ihr ihm/ihr raten?

Fragt Euch danach:

Ist das, was Ihr getan oder versäumt habt, wirklich so schlimm?

Welchen Anteil und welche Verantwortung hat der andere daran?

Was passiert, wenn ich mir dessen Vorwürfe nicht zu eigen mache?

Kann ich genau jetzt etwas tun, um die Situation zu bereinigen? Muss oder will ich das überhaupt? Wenn Ihr Euch nichts vorzuwerfen habt, gibt es auch nichts wiedergutzumachen.

Mitteilen

Teilt Eure Zweifel und Eure Schuldgefühle mit einem vertrauten Menschen. Hört Euch an, was er zu sagen hat. Das kann sehr hilfreich sein, eine Situation zu relativieren.

Ihr könnt die Zeit nicht zurückdrehen. Niemand weiß, ob eine andere Reaktion, ein anderes Handeln, ein anderes Wort irgendetwas besser gemacht hätte. Und wer entscheidet denn, was richtig und was falsch ist. Diese Einschätzung ist immer subjektiv. Das, was für den einen möglich ist, ist für den anderen unmöglich. Und niemand kann hellsehen. Keiner kann wissen, was ein anderer braucht. Wer nicht zur richtigen Zeit kommuniziert, was er will, darf sich nicht beschweren, wenn er es nicht bekommt. Soll heißen, auch wenn es um Schuld geht, gehören immer mindestens zwei dazu.

Jeder handelt zunächst gemäß seiner Persönlichkeit, seinen Werten und Erfahrungen und seiner momentanen Gefühlslage.

Ja, mag sein: Vielleicht gibt es immer einen besseren Weg, aber im Nachhinein spielt das keine Rolle mehr, denn das was war, kann man nicht mehr ändern. Sofern man es überhaupt will. Denn auch hier gilt wieder: Es ist immer Eure Entscheidung, ob Ihr die Ansprüche, die andere an Euch haben, akzeptiert oder ob Ihr zu Euch steht und für Eure eigenen Wert einsteht.

Manche Menschen werden unsere Wege meiden, andere werden sie verlassen und wieder andere werden uns treu begleiten, egal wo wir abbiegen. Doch einen haben wir immer dabei: Uns selbst.

Also seid gut zu Euch!