„Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu belassen und zu hoffen, dass sich etwas ändert.“ (Einstein)

Einstein war ein kluger Mann und wir wissen, er hatte recht. Trotzdem hängen wir fest, im Modus des täglich grüßenden Murmeltieres. Und schuld daran sind vor allem Routinen, Rituale und Gewohnheiten. Sie nutzen und sie nerven, sie sind liebenswert und abartig, sie helfen und behindern gleichermaßen. Sie hängen zusammen und sind trotzdem nicht dasselbe. Und wenn man sie mal intus hat, wird man sie so schnell nicht wieder los.

Autismus Diagnosen werden nicht vergeben, wenn man keine Neigung zu Routinen und zu ritualisiertem Verhalten hat. Essstörungen, vor allem Anorexie, folgt einer einzigen Abfolge von Regeln. Und eingefahrene Gewohnheiten sind immens hinderlich, wenn wir versuchen, uns ein anderes Verhalten anzueignen.

Aber was ist jetzt eigentlich was und warum haben wir Menschen diese Muster?

Routinen:

Mein Wecker klingelt um 6.30 Uhr, ich stehe auf, gehe in die Küche, mache die Kaffeemaschine an und gehe duschen. Das mache ich jeden Morgen, ohne es planen zu müssen. Das ist meine Morgenroutine.

Gehört Ihr zu den Autisten, die um exakt 8.42 Uhr frühstücken und freitags um genau 11.13 Uhr anfangen, die Bude aufzuräumen?

Oder macht Ihr samstags Euren Wocheneinkauf und geht dafür immer in denselben Supermarkt?

Routinen sind Handlungsfolgen, die automatisch abgearbeitet werden, ohne dass wir darüber nachdenken müssen. Jeder Mensch hat sie, die einen mehr, die anderen weniger.

Wonach richten sich Routinen?

Da ist vor allem der Alltag, der eine Struktur vorgibt, die eingehalten werden muss. Schule, Arbeit, Sportverein, der Fahrplan der öffentlichen Verkehrsmittel, alles hat seine Zeiten und seine Regeln. Wäre das nicht so, würde blankes Chaos herrschen. Eltern schaffen Routinen für ihre Kinder, um ihre eigenen Tagespläne einhalten zu können, um den Kleinen Sicherheit zu geben und um sie an den routinierten Tagesablauf zu gewöhnen, der ihnen im Laufe ihres eigenen Lebens abverlangt werden wird.

Auch individuelle Bedürfnisse und Vorlieben entscheiden, welchen immer gleichen Abläufen wir folgen.
Der eine geht lieber morgens laufen, der andere bevorzugt Sport am Abend. Manche frühstücken zu Hause, andere holen sich auf dem Weg etwas „to go“, etc.

Aus den Beispielen geht schon hervor, welche Funktionen Routinen erfüllen:

Sie erleichtern und sortieren unser Leben. Sie kompensieren Defizite und helfen, Emotionen zu regulieren. Sie sparen Zeit und Energie.
Alles, worüber wir nicht bewusst nachdenken müssen, braucht kaum Hirnpower. Unser Hirn ist nämlich per se faul. Es hat keine Lust, mehr Energie zu verschwenden als unbedingt notwendig. Und weil vor allem das autistische Gehirn wohl einen Verbrauch hat, der einem Kraftwerk gleicht und zudem anders verarbeitet, sucht es jeden Sparmodus, den es finden kann. Die immer gleichen Abläufe ersetzen die unzureichende Flexibilität des autistischen Gehirns. Außerdem können Routinen fehlende Körpersignale kompensieren. Wer kein Hungergefühl hat, muss nach Zeit essen. Wer nicht müde wird, muss trotzdem zu einer bestimmten Zeit ins Bett gehen usw. Werden diese Abläufe gestört, kann das Stress und manchmal auch Angst auslösen.

So nützlich Routinen auch sein können, sie haben zwei Problematiken.

Erstens:

Sie nutzen immer dieselben neuronalen Bahnen. Sie machen das Gehirn unflexibel.
Für Autisten kann das ein Teufelskreis sein. Sie sind besonders anfällig für routinierte Abläufe, weil deren Gehirne nicht schnell genug mit Veränderungen umgehen können. Und je mehr Routinen wir haben, umso mehr starre neuronale Areale bilden wir aus. Das wiederum führt dazu, dass wir rigider, also eingefahrener werden in unserem Denken und Verhalten. Ein Gehirn muss genauso trainiert werden wie ein Muskel, wenn es gesund und leistungsfähig bleiben soll. Somit sollten alle Menschen ihre Routinen hin und wieder hinterfragen und da, wo es möglich ist, verändern.

Zweitens:
Eine Routine kommt nicht allein. Routinen bilden Ketten. Auf a folgt b folgt c usw..
Ist ein Kettenglied gestört, fällt das Kartenhaus zusammen. Die Abfolge kann nicht eingehalten werden, das Hirn kann sich nicht schnell genug anpassen, der Tagesplan gerät durcheinander. Bei den einen mehr, bei den anderen weniger, aber jeder kennt es.

Was ist das jetzt aber, wenn jemand immer sonntags in die Frühmesse geht? Oder freitags abends zum Stammtisch. Oder Mittwoch nachmittags in die Sauna? Oder immer von demselben Teller mit demselben Löffel isst?

Das wiederum sind Rituale.

Der Unterschied zwischen Routine und Ritual liegt in der Absicht der Handlung. Während eine Routine ein automatisierter Ablauf ist, der sich unbewusst und unangestrengt um sich selbst kümmert, verfolgt ein Ritual einen bewussten Zweck. Rituale haben oft, aber nicht immer, eine tiefere Bedeutung. Sie erfüllen vor allem emotionale Bedürfnisse, wie zum Beispiel den Wunsch nach Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft (der Bibelkreis, die Skatrunde, die Sauna Clique). Oder das Verlangen nach Transzendenz und Spiritualität (regelmäßiges Meditieren).

Manche Rituale resultieren aber auch aus einem routiniert- rigiden Gehirn, vor allem, wenn wir ihm beigebracht haben, dass es angstmindernd wirkt, wenn wir die Dinge immer auf dieselbe Weise tun.

Einige Autisten (und NT) sortieren z.B. bewusst und zielgerichtet ihre Schränke auf exakte Art und Weise, weil diese Ordnung ihnen Überblick und damit Sicherheit gibt. Oder Gegenstände müssen immer an demselben Platz stehen. Und manche Menschen mit Essstörungen essen nicht selten nur und ausschließlich von bestimmtem Geschirr.

Ritualisiertes Verhalten kann eine Panikstörung überdecken und/oder unter ungünstigen Umständen in einer Zwangsstörung enden. Wenn man nicht mehr darüber entscheiden kann, von welchem Geschirr man isst, weil man sonst eine Panikattacke bekommt und wenn Autisten einen Meltdown kriegen, wenn jemand einen Gegenstand verrückt, dann kann die Vermischung von Routinen und Ritualen Ausdruck eines darunterliegendes Problems sein.

Zusammenfassend noch ein Beispiel, das den Unterschied zwischen Routine und Ritual deutlich macht:

Eine heiße Dusche jeden Morgen nach dem Aufstehen ist eine Routine.
Macht mal halt, weil man es halt macht. Man denkt nicht darüber nach. Wird der Ablauf gestört, kann es passieren, dass man den Bus verpasst, zu spät zur Besprechung kommt, das Mittagessen vom Tablett fällt und der ganze restliche Tag ein einziger negativer Dominoeffekt ist. Nur, weil man nicht geduscht hat und das Hirn seine Routine vermisst.

Eine heiße Dusche regelmäßig am Sonntagmorgen mit Kurpackung für die Haare und einem Peeling ist ein Ritual. Macht man, um sich etwas Gutes zu tun, zur Entspannung, zwecks Wellness. Bewusst und zielgerichtet. Wenn doch mal was dazwischenkommt, ist das zwar schade, aber mehr passiert nicht. Weil einem Ritual in der Regel keine weiteren, unmittelbar daran angeknüpften Aktionen folgen.

Kommen wir nun zum kompliziertesten Punkt, den Gewohnheiten

Musstet Ihr Euch schon mal sagen lassen, dass Ihr Euch selbst im Weg steht?

Dann habt Ihr wahrscheinlich Gewohnheiten, die Euch daran hindern, Euch zu entwickeln.

Routine und Gewohnheit werden selbst in Fachkreisen oft nicht unterschieden.
Das mag daran liegen, dass wir tatsächlich einer Routine folgen müssen, um eine Gewohnheit ausbilden zu können.

 Aber:

Die Art von Routinen, die zu Gewohnheiten führen, sind keine täglich wiederkehrenden Handlungsketten. Routinen, die Gewohnheiten ausbilden, folgen vielmehr einem bestimmten Reiz, egal, wann und wo er auftaucht. Einem Auslöser, der dem Gehirn befielt, ein ganz bestimmtes Verhalten zu starten. Dieses Verhalten etabliert sich dann als Gewohnheit, wenn es, meist emotional, belohnt wird.

Während also eine Routine eine automatisierte AKTION ist, ist eine Gewohnheit eher eine automatisierte, sich stets wiederholende körperliche, mentale oder emotionale RE-AKTION auf immer denselben Reiz. Der wiederum ist unabhängig von Gegebenheiten wie Zeit oder Ort. Habituierte Reaktionen sind schnell, effizient, rigide und brauchen keine bewusste Entscheidung.

Als Beispiele ein paar Gewohnheits-Klassiker:

Auslöser: Fernseher
Gewohnheit: Der Griff zur Bierflasche. Egal wo und um welche Uhrzeit.
Belohnung: Entspannung

Auslöser: Stress
Gewohnheit: Eine rauchen. Egal welche Art von Stress, wann oder wo.
Belohnung: Beruhigung

Auslöser: Anblick von Essen
Gewohnheit: Binge Attacke
Belohnung: Befriedigung, Beruhigung oder sogar Bestrafung

oder aber:

Gewohnheit: Restriktion
Belohnung: Angst wird gemindert

Auslöser: Ein Kommentar eines anderen Menschen
Gewohnheit: Ich denke, ich bin nichts Wert, ich ziehe mich zurück.
Belohnung: Das eigene Selbstbild wird bestätigt. Das ist für das Gehirn auch dann eine Belohnung, wenn man negativ über sich denkt.
Selbstbestätigung wird als Erfolg interpretiert. Wenn ein Verhalten Erfolg hat, erkennt das Hirn, dass es sich lohnt, immer wieder genauso zu handeln. Dabei unterscheidet es nicht, ob unsere Reaktion förderlich ist oder nicht.

Mit jeder Wiederholung desselben Musters vollziehen sich kleinste Veränderungen im Denken und in den neuronalen Mechanismen. Es werden Verbindungen gefestigt zwischen Reizen und Reaktionen. Das belohnende Hormon Dopamin unterstützt diesen Kreislauf, denn es dient dem Gehirn als Signal, eine Gewohheit auszubilden. Wird diese dann durch ihren Auslöser getriggert, stoppt der Entscheidungsprozess augenblicklich und der Autopilot übernimmt. Die Gewohnheit einer Gewohnheit ist nämlich, sich Alternativen sehr hartnäckig zu verweigern.

Dabei bietet Stress einen besonders guten Nährboden für die Entstehung von Gewohnheiten. Die neurophysiologische Antwort auf Stress fördert es, dass sich Verhaltensmuster festsetzen. Aus der Perspektive einer Gewohnheit entsteht z.B. Sucht auf dem Nährboden von Stress. Der einst zielgerichtete Fokus auf das Suchtmittel führt im Laufe der Zeit zum rein gewohnheitsmäßigen Verlangen nach dem Belohnungseffekt und damit zum gewohnheitsmäßigen Konsum. Es geht dann nicht mehr um das Suchtmittel an sich, sondern um das gewohnte, automatisierte Verhalten, das sich selbst erhalten will. Auch bezogen auf Essstörungen gilt: Es geht irgendwann nicht mehr z.B. ums dünn sein, es geht nur noch um das gewohnte Verhalten. Diese dysfunktionalen Muster werden sogar dann beibehalten, wenn sie nicht mehr belohnt werden, wenn man schon längst „die Schnauze voll hat“. Sie bestätigen sich selbst.

Fatalerweise verstärken Fehlversuche, ein Verhalten zu ändern, Gewohnheiten zusätzlich, weil sie stressen und gleichzeitig dem Gehirn beibringen, dass das althergebrachte Vorgehen erfolgreicher ist. Und Fehlversuche sind die Regel, wenn es um Veränderung geht, denn Veränderung ist schwer. Wenn Reiz =Reaktion zur neuronalen Schnellstraße wird, hilft der Wille, etwas zu modifizieren, genauso wenig, wie Motivation. Das Einzige, was wirkt, ist Konsistenz, also beständig und hartnäckig ein anderes, gewünschtes Verhalten einzuüben. So lange, bis das neue Muster das alte überlagert. Und das ist ein schwerer Weg!

Erschwerend kommt hinzu, dass Gewohnheiten für immer in unseren Gehirnen codiert bleiben. Wir können ein neues Muster zwar so stärken, dass das alte, unliebsame nicht mehr wirkt. Aber löschen können wir es nicht.

Hierzu ein kleiner Exkurs:

Die Eating Disorder Recovery Szene und die Fachwelt kämpfen um gegenseitiges Verstehen, was Heilung bedeutet.

Ehemalige Patienten sagen, vollständige Heilung sei möglich. Ärzte und Psychologen dagegen behaupten, dass man Essstörungen nicht heilen könne, man können nur lernen, damit zu leben. Diese Aussagen sind kein Widerspruch, wenn man ein paar Dinge versteht:

Was die Fachleute sagen, zielt genau darauf ab, dass Verhaltensmuster nicht gelöscht werden können.
Menschen mit Essstörungen können heutzutage völlig symptomfrei werden, sofern sie rechtzeitig mit den richtigen Methoden neue, gesunde Verhaltensweisen ausbilden können. Gewohnheiten, die stärker wirken als die, die die Problematik aufrechterhalten. Rechtzeitig ist wichtig, damit das Gehirn noch auf Codes und Erinnerungen aus der gesunden Zeit zurückgreifen kann. Je länger das Problem besteht, umso schwerer wird es, neues Denken und Handeln so zu stärken, dass die Essstörung keinen Durchgriff mehr hat.

Heilung im Zusammenhang mit einer Essstörung bedeutet, dass ehemals Betroffene ein Leben ohne essgestörtes Verhalten und Denken führen können.
Heilung heißt nicht, es gibt keine Rückfallgefahr mehr. Jede Form von massivem Stress, vielleicht noch gepaart mit Gewichtsverlust, der per se die genetische Antwort provoziert, kann einen Rückfall auslösen. Und zwar jeder Zeit, auch noch nach Jahrzehnten.

Warum?

Weil Essstörungen aufrecht erhalten werden durch Gewohnheiten die, wie gesagt, im Gehirn codiert bleiben. Das heißt, auch wenn Ihr symptomfrei seid müsst Ihr auf Euch achten. Ihr könnt ein normales Denk- und Essverhalten haben, müsst Euch aber immer der Gefahr bewusst sein, dass eine Essstörung reaktiviert werden kann.

Deshalb spricht man eher von Remission, also von vollständigem Stillstand und Rückgang der Symptome, als von Heilung.

Das ist gemeint mit „damit leben müssen, damit umgehen müssen“.
Das spricht Euch nicht die Chancen ab, ein Leben ohne Essstörung leben zu können, es schmälert keineswegs Euren Erfolg, es bedeutet nur: Seid stets aufmerksam!

Wie ändert man Gewohnheiten?

Nach dem Motto: Feind erkannt, Gefahr gebannt. Naja, ganz so einfach ist es leider nicht. Aber das Prinzip stimmt.
Um Gewohnheiten zu ändern, muss man sich deren erstmal bewusst werden. Diese sogenannte „kognitive Kontrolle“ limitiert das gewohnte Verhalten. Man muss wissen, was man denkt, welches Verhalten dem Denken folgt und welchen Effekt das hat. Und natürlich, was man anders machen will und warum.
Manchmal, vor allem bei Süchten, braucht es sogar radikalere Schritte, wie eine Veränderung der Umgebung, einen Wechsel des Wohnortes, des Arbeitsplatzes, des Freundeskreises, also eine Abkehr von den auslösenden Reizen.

Um sich neue Verhaltensmuster anzueignen, empfiehlt sich eher die „Step by Step“ Methode. Es hilft, sich einem Ziel in ganz kleinen Schritten zu nähern. Je leichter die Etappenziele zu erreichen sind und je prompter die Erfolge spürbar werden, umso schneller festigen sie sich.