Wie sich Gewichtsangst zeigt, woher sie kommt und was wir dagegen tun können

 

Kontrolliert Ihr jeden Tag mindestens einmal Euer Gewicht und die Waage entscheidet darüber, wie es Euch geht?

Fühlt es sich so an, als wären Euer Gewicht und Euer Aussehen unmittelbar mit Eurer Identität verknüpft?

Steigt bei der Vorstellung von mehr Gewicht so etwas wie Panik in Euch hoch? Denkt Ihr darüber nach, wie Ihr es ertragen könnt und was andere wohl sagen werden?

Macht es Euch Angst, wenn Eure Klamotten enger werden und triggert das den Drang danach, schnellstmöglich etwas dagegen zu tun? Mehr Sport, weniger und anders essen, beides?

Versagt Ihr Euch etwas, dass Ihr gerne essen würdet, vielleicht sogar unter dem Deckmäntelchen des „ungesund“, weil es fett, süß und voller Kalorien ist?

Dann nennt man das Gewichtsphobie.

Heute schreibe ich Euch mal wieder einen Artikel zum Thema Essstörungen. Ich mache keine Videos mehr, weil mir der Aufwand einfach zu groß ist. Als ich aber neulich in mein Analytics geschaut habe, habe ich gesehen, dass vieles, was ich über Essstörungen geschrieben habe, sehr weit oben gelistet wird. Daraus schließe ich, dass Euer Bedarf an Infos nach wie vor groß ist. Entsprechend wird jetzt eine kleine Serie von Beiträgen folgen, die sich mit den größten Recovery- Hürden beschäftigen.

Und heute kommt Teil 1: Die Angst vor Gewichtszunahme.

Egal, welche Essstörung, ob sie klinisch relevant ist oder „nur“ gestörtes Essverhalten dahintersteckt, die Angst vor Gewichtszunahme war für viele von Euch vermutlich der Starter Eurer ES und für 99 % ist es die schwierigste Hürde in Recovery.

Definieren wir nochmal kurz den Begriff „Essstörung“, der vor allem für nicht autistische Menschen gilt. Er wird von Experten festgelegt, die es wissen müssen, weil sie in diesem Bereich aktiv tätig sind, sei es in der Forschung oder im direkten Patientenkontakt. (Was es mit dem Bio-Psycho-Sozialen Ansatz auf sich hat, könnt Ihr an dieser Stelle nachlesen.)

Es ist vor allem ein Aspekt, der Probleme mit dem Essen definiert, und der ist so entscheidend, dass ich ihn erneut aufgreifen möchte:
Eine Essstörung zeigt und erhält sich vor allem in den Gedanken und durch das Verhalten. Der primäre diagnostische Fokus auf das äußere Erscheinungsbild und die Zahl auf der Waage verkennt die Patienten und lässt Therapien scheitern.

Man (NT) gilt als essgestört, wenn der Gedanke an Essen und die Beschäftigung damit täglich mehr als ca. 5 % einnehmen.

Menschen mit einem gesunden Verhältnis zum Essen denken nur daran, wenn sich der Hunger meldet, kurz bevor und während sie essen und in Alltagssituationen, wie Einkaufen, einen Besuch vorbereiten etc. Ansonsten interessieren sie sich für andere Dinge. Gesunde Esser essen intuitiv das, was ihr Körper verlangt und machen sich keine oder wenig Sorgen um ihr Gewicht und/oder darum, dass das, was sie essen, ihnen schaden könnte. Sie essen, wenn sie Hunger haben und das, was sie mögen. Sie zählen keine Kalorien, keine Mikro- oder Makronährstoffe, sie machen kein Detox und keine Diäten und sie tracken nicht ihren Verbrauch. Sport machen sie zum Spaß, nicht als Wiedergutmachung für Snacks und Mahlzeiten.

Nachdem wir das jetzt geklärt hätten, wird deutlich, dass gemäß dieser Kategorisierung viel mehr Menschen essgestört sein müssten bzw. sind, als man so denkt. Vermutlich fallen auch viele darunter, die sich selbst nicht so bezeichnen würden. Nicht, weil sie ein Problem leugnen, sondern weil o.g. Verhalten schlichtweg als normal gilt. Es ist gesellschaftlich anerkannt und wird gefördert. Er gehört zum guten Ton, sich intensiv mit seinem Körper, dessen Funktionen, dem Aussehen und seiner Wirkung auf andere zu befassen. Und es fällt negativ auf, wenn sich jemand die unverschämte Freiheit nimmt, nach dem „don´t give a fuck“ Modell zu leben. Vielleicht, weil jeder sich diese Freiheit von kulturellen Zwängen im Grunde des Herzens wünscht.

Was ist das jetzt mit der Gewichtsphobie?

So viele Menschen es gibt, so viele individuelle Gründe findet man hier. Doch einige Ursachen teilen wir alle:

Essen ist in unseren Breiten im Überfluss vorhanden und wer sich intensiv damit beschäftigt, hat ein hervorragendes, ständig verfügbares Mittel, um sich abzulenken von unangenehmen Emotionen, ganz vorneweg von Ängsten. Fällt Euch etwas auf? Die Ablenkung von der einen Angst kann schnell zu einer anderen führen. So kann eine intensive Beschäftigung mit Nahrungsmitteln z.B. die Angst covern, verletzt zu werden und gleichzeitig eine Gewichtsphobie auslösen.

Die westliche Kultur belohnt die Dünnen und bestraft die Fülligeren. Es gibt eine Menge Annahmen und Vorurteile darüber, wie viel besser ein dünner Mensch doch ist im Vergleich zu einem Fülligeren. Zudem werden wir bombardiert mit Botschaften, die implizieren, dass es einzig und allein von unserem Willen abhängt, welche Körperformen wir haben und ob wir gesund sind. Wir müssen uns nur richtig entscheiden. Wer dick ist, hat versagt. Versagt in Selbstdisziplin und Willensstärke. Das erzählen uns nicht nur Pharmafirmen und Leute, die irgendeinen Doktortitel vermarkten wollen mit dem, was sich am besten verkauft: Einem Ernährungsratgeber. Viele von uns kriegen diese Glaubenssätze von Klein auf eingetrichtert, von ihren Eltern, Freunden, Partner, Lehrern, Ärzten, eben von allen, die auch Teil dieser Kultur sind und sich- zumindest bis jetzt- nie Gedanken darüber gemacht haben, welche „Wahrheit“ sie sich selbst erzählen und entsprechend verkünden.

So setzen wir Gesundheit mit Gewicht und Aussehen gleich und streben einen Körper an, der für die meisten ein unerfüllter Traum bleiben muss. Die, die das ultimative Ziel erreichen, zahlen einen hohen Preis. Denn einen „perfekten“ Körper kriegen die meisten nur mittels Verhaltensweisen, die das Gegenteil sind von gesund. Verzicht macht niemals wirklich glücklich.

Was auch immer der Grund für Eure Gewichtsangst ist, sie ist berechtigt. Wir leben in dieser gewichtsphobischen Gesellschaft, wir sind ein Teil davon und es ist unglaublich schwierig, sich davon zu distanzieren.

Doch wer von einer Essstörung heilen will, muss genau das tun. An einer Gewichtszunahme führt kein Weg vorbei. Denn egal, welche Essstörung ihr loswerden wollt: Das, was man tun muss, um Ängste zu besiegen, ist leider genau das, was sie auslöst. Das heißt in diesem Fall: Zunehmen, eigene und fremde Ernährungsregeln brechen, nichts mehr zählen, nicht(s) mehr wiegen und lernen: Don´t give a fucking fuck.

Ich gebe Euch drei Tipps, wie man das schaffen kann. Leider ist keiner davon ein „quick fix“, aber Übung macht den Meister:

  1. Habt Mitgefühl für Euch selbst

Eine Essstörung ist so ziemlich das Übelste, was einem passieren kann- und es passiert wortwörtlich. Ihr habt´s Euch nicht ausgesucht. Der Weg raus ist schwierig, holprig, niemals linear und Unterstützung findet man nur schwer. Die möglichen Helfer jagen ja auch ihren makellosen Bodys hinterher und suchen nach der ultimativen Ernährung, die sie vor allem Leiden bewahren kann. Also macht Euch nicht fertig, wenn es mal nicht so läuft, wie Ihr Euch das wünscht. Stillstand darf sein, Pausen helfen beim Reflektieren. Und ein Rückschlag hat immer einen Lerneffekt. Dadurch erfährt man zumindest, was nicht funktioniert.

Selbstmitgefühl ist erlernbar, es gibt einige Techniken dafür, die ich mal an anderer Stelle ausführen kann, sonst wird´s hier zu off Topic. Es kann dauern, bis man spürt, wie es sich anfühlt, bei sich selbst zu sein. Vor allem dann, wenn man es gewohnt ist, selbstkritisch und perfektionistisch zu sein. Habt Geduld. Gebt nicht auf.

  1. Es geht nicht um andere, es geht um Euch selbst

Ist Eure Gewichtsangst mit der Angst verbunden, was andere wohl sagen oder denken könnten? Völlig normal! Wir leben nicht allein auf dieser Welt und die Kritik und die oft unüberlegten Kommentare anderer sind mitunter grausam. Vor allem, wenn sie von Menschen kommen, die wir lieben und/oder wenn sie auf so etwas absolut Persönliches abzielen, wie unsere Körper.

Checkt Ihr, wie andere aussehen? Ich wette, ja. Diejenigen, die auf die Körper anderer schauen, habe mit ziemlicher Sicherheit genauso ein Problem mit ihrem eigenen, wie ihr selbst mit Eurem. Auch sie haben ihr Gehirn darauf programmiert, dass Aussehen zählt. Im Laufe Eurer Heilung könnt Ihr lernen, Euch davon unabhängig zu machen und irgendwann werden Kommentare, Verhaltensweisen und das Aussehen anderer keine Rolle mehr spielen. Wenn das nächste Mal der Gedanke aufpoppt, was Kreti und Pleti wohl denken, haltet kurz inne und lenkt Eure Aufmerksamkeit in Euren eigenen Kopf und auf Eure eigenen Werte. Auch das kann man lernen.

  1. Macht Euch bewusst, dass Gewicht und Glück nicht voneinander abhängen.

Wie ich oben schon geschrieben habe, werden wir (vor allem Frauen) darauf geprägt, dass Aussehen und Gewicht mit unserem Lebensglück verbunden sind. Doch tatsächlich hat das eine mit dem anderen gar nichts zu tun. Unsere Lebenszufriedenheit und unser Glück hängen nicht davon ab, wie viel oder wenig wir wiegen. Es gibt glückliche und zufriedene Dicke und unglückliche und unzufrieden Dünne und ganz viel dazwischen.

Es ist nicht die Ästhetik, die Euch diktieren sollte, wie Ihr Euch fühlt. Das, was wirklich zählt, ist das, was Euch erfüllt- und damit meine ich nicht, Essen. Wie seht Ihr Euch, wie sprecht Ihr zu Euch, wie geht Ihr mit Euch selbst um und welche Bedeutung messt Ihr dem bei, was Ihr erlebt? Was sind Eure Ziele im Leben, Eure Werte? Wer und wie wollt Ihr sein. Findet es raus, dann kann essen oder nicht essen in den Hintergrund rücken.

 

Habt Geduld!

Veränderung passiert nie über Nacht und Heilung von einer Essstörung ist ein langatmiger Prozess. Negative Glaubenssätze, die Ihr schon ein Leben lang in Euch tragt, lösen sich nicht einfach so auf. Man muss an Ihnen arbeiten. Aber mit Geduld, Ausdauer und bestenfalls der richtigen Hilfe, ist vollständige Heilung möglich. Es gibt ein Licht am Ende des Tunnels für jeden von Euch.