Schon so weit und noch nicht da!

 

Warum man quasi recovery von mehreren Seiten beleuchten sollte

Recovered/geheilt wird wie folgt definiert (sinngemäß übersetzt):

Wer sich als geheilt bezeichnet, der akzeptiert seinen Körper, seinen Charakter und sein Setpoint-Gewicht. Er/sie nutzt keine Gegenmaßnahmen, um die Zahl auf der Waage oder sein/ihr Aussehen bewusst zu beeinflussen. Wer geheilt ist, definiert sich nicht mehr durch Zahlen, sonstige Äußerlichkeiten oder durch andere Menschen. Er/sie manipuliert weder seinen/ihren Körper, noch seine/ihre Seele, noch nutzt er/sie irgendwelche Verhaltensweisen, um sich von Problemen abzulenken oder sie zu kompensieren. Auch Sport dient der Freude und nicht mehr der Regulierung des Gewichtes.
Diese Auslegung von Carolyn Costin ist weltweit anerkannt.

Wenn man das nun liest, denk man auf den ersten Blick: OK, klar.

Und auf den Zweiten fragt man sich, ob es überhaupt Menschen gibt, die diese Ansprüche erfüllen. Die sich täglich morgens mit einem liebevollen Blick im Spiegel betrachten, die sich nicht mal in die Bauchröllchen kneifen und beschissene Laune kriegen, wenn die Zahl auf der Waage höher ist als sie sollte, die Sport nur for fun machen, völlig cool sind mit Torte zum Frühstück und grundsätzlich nicht kompensieren. Ich kenne niemanden.

Ausgerechnet diejenigen, die eine Essstörung haben, müssen sich hier so absolut beweisen, um den Titel „geheilt“ verliehen zu bekommen. Mag sein, dass es tatsächlich so ist, dass die meisten Geheilten ein besseres Verhältnis zu sich und ihrem Körper haben und sich freier fühlen von Ernährungsregeln als der Rest der Menschheit. Immer vorausgesetzt, sie gehören zu den Gesegneten, deren Setpoint auch nach der Recovery im akzeptierten Bereich bleibt und die auch sonst keine großen Belastungen haben außerhalb der (ehemaligen) ES. Doch viele, deren Körper genetisch bedingt mit einem höheren Gewicht besser funktioniert, kämpfen oft damit, nun mit einem nie gewollten Umfang klarkommen zu müssen, wenn sie keinen Rückfall riskieren wollen. Sie trauen es sich aber nicht zu sagen, damit es nicht heißt: „Ihr seid ja „nur“ quasi recovered.“
Und kennt Ihr das? Ihr entscheidet Euch bewusst für den Apfel anstatt für den Kuchen, weil Ihr an diesem Tag zu viel Süßkram hattet und schon kommen Zweifel auf: „Bin ich etwa immer noch erst quasi recovered“? Nein, das nennt man ausgewogene Ernährung.

Die Botschaften unserer Gesellschaft sind überall und kaum jemand entzieht sich ihnen, weil das schlichtweg nicht möglich ist. Die Appelle, wie man auszusehen hat, wie man zu sein hat und wie man sich ernähren soll, sind direkt und subtil zugleich.
Wer auch nur ein kleines bisschen gegen den Strom schwimmt, spürt heftigen Gegenwind, selbst im engsten Kreis. Um trotzdem sein eigenes Ding zu machen, braucht man ein gutes Selbstbewusstsein, Selbstwert und alles, was Menschen mit Essstörungen in der Regel fehlt. Das Bedürfnis, dazuzugehören, ist zutiefst menschlich. Also passt man sich an. Die einen mehr, die anderen weniger.
Doch Heilung von einer Essstörung ist nur möglich, wenn man bezüglich des Ess- und des sogenannten gesundheitsbewussten Verhaltens fast das Gegenteil von dem tut, was gemeinhin akzeptiert ist und es trotzdem schafft, eine Balance zu finden zwischen Wollen, Sollen und Vernunft.

Damit sind wir auch schon mittendrin in dem komplexen Thema „Quasi Recovery.“

Der Terminus des Quasi Recovery ist ein Kunstbegriff, den die Szene geprägt hat, um folgenden Zustand zu beschreiben.

 „Quasi Recovery ist, wenn man nicht mehr massiv/klinisch relevant essgestört ist, aber aus Angst vor Gewichtszunahme, vor sonstigen Veränderungen und aufgrund von Gewohnheiten immer noch restriktiv denkt und sich entsprechend verhält. Man isst regelmäßiger und variantenreicher, man bewegt sich nicht mehr nonstop, man hat ein OK-Gewicht, aber nicht seinen Setpoint; und das Denken und das Tun sind noch nicht im gesunden Bereich.“

 Neuro Rewiring not completed, yet.

Der Weg aus einer Essstörung ist nicht linear. Fortschritte, Rückschritte und Stopps, alles normal. Nur, wenn Ihr schon wirklich weit gegangen seid und dann in diesem quasi Status stecken bleibt, seid Ihr in der Regel mindestens so unglücklich wie in den schlimmen Zeiten Eurer ES. Denn jetzt habt Ihr ein Gefühl dafür, wie es sein könnte, gesund zu sein und doch scheint es immer noch so unerreichbar.
Die letzten Schritte aus der ES können die schwersten sein. Kaum jemals schreit die Angst vor dem Zunehmen so laut, wie dann, wenn Ihr das Gewicht erreicht habt, das Ihr Euch selbst als Maximum gesetzt habt. Die letzten Pfunde, die das Gehirn zur vollständigen Heilung bräuchte, die fühlen sich nahezu unüberwindbar an. Unter anderem deshalb ist die Rückfallquote nach Klinikaufenthalten auch so hoch. Kliniken machen keineswegs alles falsch 😉. Aber das Zielgewicht wird meistens (aus Kostengründen und aufgrund der Angst der Therapeuten) zu niedrig angesetzt, die Essensregeln nicht aufgelöst, sondern ersetzt und das Neuro- Rewiring, die Änderung der Verhaltensmuster, hat zu wenig Raum. Die Patienten werden zu früh entlassen, oft ohne die richtige Nachsorge, und den gefährlichen letzten Schritt müsst Ihr dann allein gehen. Hallo quasi Recovery. Bestenfalls bleibt Ihr in dieser Zwischenwelt, schlimmstenfalls geht Ihr zurück und wer Glück hat, sich einen ED-Coach leisten zu können oder ein sehr unterstützendes und aufgeklärtes Umfeld hat, der wird hoffentlich gesund.

Doch ist es wirklich so, dass alle völlig gesund werden können? Was ist mit denen, die schon 20, 30 plus Jahre ziemlich tief in einer ES stecken? 

Man sollte Quasi Recovery vielschichtiger betrachten, denn für manche ist das mehr, als sie jemals zu hoffen gewagt hätten.

Heilung von einer Essstörung ist möglich, für jeden, egal welchen Alters, welchen Geschlechtes und welcher Herkunft. Ich möchte das hier ausdrücklich betonen. Dass man eine Essstörung hinter sich lassen kann, haben inzwischen viele Ehemalige weltweit eindrücklich bewiesen. Doch wir kommen nicht daran vorbei, dass die meisten der Gesundeten unter 30 sind und Ihre ES „nur“ ca. 10 Jahre lang hatten. Definitiv sind auch ca. 10 Jahre viel zu lang, aber die Erinnerung an die Zeit davor besteht oft noch. Das kann einiges leichter machen. Und mit jedem Jahr mehr graben sich die Muster tiefer in die neuronalen Bahnen und sind umso schwerer aufzulösen.
Es ist also nicht egal, ob Ihr 16, 18, 20 oder 40, 50 und mehr Jahre alt seid. Somit ist für nicht Wenige leider schon allein der Gedanke an Heilung eine absolute Überforderung, und damit tatsächlich auch nicht motivierend. Denn man investiert nicht das letzte bisschen Energie, die man noch hat, in ein Projekt, das unerreichbar scheint, an dem man schon x-Mal gescheitert ist.

Die bereits Chronifizierten unter Euch, Ihr habt vermutlich schon so viele Therapien durch, dass Ihr wisst, was der Therapeut hören will, bevor er weiß, was er fragen wird. Ihr seid müde. Von der ES, aber noch mehr von den ständigen Versuchen und Rückfällen. Ihr habt nach Jahrzehnten in Eurer Essstörung eine andere Vorstellung von Recovery und oft schlechtere Bedingungen als die Jungen. Ihr seid an einem anderen Punkt in Eurem Leben. Vielleicht würde es Euch schon reichen, ein bescheidenes bisschen mehr Lebensqualität zu haben, das hinzukriegen, was Euch am meisten quält und behindert. Ihr wäret im Grunde genommen schon glücklich, wenigstens „quasi recovered“ zu sein.

Leider sind Forschung und Therapien, die meisten Coachingangebote, YouTube und der ganze Rest der social Media Welt auf die Jungen ausgerichtet. Derweil gibt es viel mehr 40 Plus Essis als man denkt. Wenn Ihr Jahrzehnte mit einer Essstörung (insb. Anorexie) gelebt habt, werdet Ihr i.d.R. nie mehr so essen können als hättet Ihr nie eine Essstörung gehabt. Das ist nicht mein persönlicher Eindruck, sondern das ist nachweislich so. Ich möchte damit niemanden demotivieren, im Gegenteil. Ich will den Druck rausnehmen, dass alle dasselbe Ziel anstreben und manche dann frustriert darauf warten, dass sich ein Zustand einstellt, den es nicht (mehr) geben kann. Selbstverständlich gibt es auch für Euch Langjährige Wege aus einer klinisch relevanten ES, die Euch ein Leben mit Lebensqualität ermöglichen. Quasi Recovery oder wie immer man das nenne mag, wenn man den Urzustand des (Ess)verhaltens und den Prototypen des Denkens nicht mehr erreicht, ist nicht immer und nicht für jeden ein unguter Zustand. Niemand ist zu feige oder zu unmotiviert, der nach Jahrzehnten in einer schweren ES entscheidet, nicht weiter gehen zu wollen oder zu können. Und wer weiß, vielleicht schafft es auch der/die eine oder andere Ältere, sich im Laufe der Zeit komplett aus den Fängen dieser Krankheit zu befreien.

Geheilt sein bedeutet nicht, alles ist für immer easy going. Es heißt auch nicht, dass Ihr nie wieder kompensieren werdet. Kompensation ist nichts anderes als ein eigentlich konstruktiver Umgang mit einer schwierigen Situation. Wir tun das ständig und es ist kein Zeichen, dass jemand noch nicht geheilt ist und in quasi Recovery hängt. Wer in Maßen Sport macht, um Stress und Anspannung zu kompensieren, warum nicht? Wer dagegen jeden Tag 3 Stunden joggt und nicht mehr anders kann, der macht den Stresslöser zum zusätzlichen Stressfaktor. Dann ist Kompensation dekompensiert und wird ungesund. Hier gilt es, die eigenen Grenzen auszuloten und ggf. neue, wirkungsvolle Tools zu lernen, die helfen, ohne zu schaden.

Und absolute Selbstliebe als Maßstab für geheilt? Wie kommt Ihr da drauf? Das lese ich ständig in den Accounts ehemals Betroffener. Dieses Konstrukt muss mir erstmal jemand so erklären können, dass ich wirklich verstehe, was damit gemeint ist. Das ist bis jetzt noch niemandem gelungen. Ich möchte Euch nicht absprechen, das hinzukriegen, aber ich persönlich kennen keinen einzigen Menschen, der sich zu 99,999 % so akzeptiert, wie er ist. Es sei denn, er/sie ist narzisstisch und das ist die Form von Selbstliebe, die man keinem wünschen sollte. Ein gewisses Maß an Selbstkritik ist sehr gesund, denn so wissen wir immer, worauf wir achten müssen und woran wir noch arbeiten können. Es ist auch normal, zwischendurch „bad body image days“ zu haben oder sich selbst einfach nur doof zu finden für etwas, das man verbockt hat. Man ist nicht „nur“ quasi recoverd, weil man mal denkt: „Ich blöde Kuh, warum habe ich jetzt schon wieder den Schlüssel von innen stecken lassen.“

Selbstakzeptanz oder noch einfacher Selbstrespekt dagegen, ist ein Ziel, das jeder erreichen kann. Man muss sich und seinen Körper nicht lieben, um eine Essstörung hinter sich lassen zu können, aber man sollte lernen, sein geschenktes Leben und seinen Körper zu respektieren und entsprechend respektvoll zu behandeln. Dazu gehört auch, sich gut zu ernähren und sich nicht auszulaugen durch 24/7 Sport, Arbeit, endlose ToDo Listen u.a.

Wer das noch nicht kann, der darf noch ein bisschen weiter üben.

Zum Schluss noch ein Wort zum Thema Zahlen.

Auch hier gibt es keine Regeln, die für alle gelten. Es kommt immer auf das Motiv an, weshalb Ihr bestimmte Zahlen nutzen wollt.

Quasi Recovery wäre, wenn Ihr die Waage noch zur Kontrolle Eurer Ängste braucht. Aber manche von Euch wollen vielleicht lernen, die Zahl auf der Waage zu neutralisieren. Ihr wollt Euch weiterhin wiegen, damit Ihr z.B. sehen könnt, ob Ihr (unbeabsichtigt) abnehmt. Gewicht halten ist besonders wichtig für alle mit Anorexie, weil Eure Gesundheit davon abhängt, dass die Genetik Ruhe gibt. Somit sollte dieser Punkt zumindest diskutiert werden dürfen.

Andere, so wie ich als Autistin, müssen zumindest ungefähr wissen, wie viele Kalorien sie essen, weil sie kein Gefühl für Hunger und Sättigung und keinen hedonischen Antrieb, zu essen, haben.

Wichtig ist, dass Ihr ehrlich zu Euch selbst seid und die Stimme Eurer ES von Euren wahren Motiven unterscheiden könnt.

Recovery ist nicht für alle gleich. Jeder hat andere Ziele und andere Voraussetzungen und wie es sich anfühlt, geheilt zu sein, ist individuell. Deshalb ist es unglaublich wichtig, das persönliche Erleben und die eigenen Vorstellungen nicht auf andere zu übertragen.

Wir können geheilt im Grunde nur für uns selbst definieren und dürfen anderen nicht ihr eigenes Erleben absprechen,  weil es nicht unseren Erfahrungen gleicht.
Wenn Ihr auf Eure gesunde innere Stimme hört, dann wisst Ihr, ob Ihr noch in quasi Recovery seid, ob Ihr weiter gehen wollt und könnt, oder ob Ihr schon geheilt seid. Egal, ob Ihr den Weg allein geht oder mithilfe von Coaching und/oder Therapie:

Überprüft immer wieder Euren Weg. Fordert Euch, ohne Euch zu überfordern.