Gibt es in den Grundschulen eigentlich diese Fleißzettelchen noch?

Als ich Kind war, bekamen wir für bestimmte, gut erledigte, Aufgaben kleine, rote, viereckige Pappteilchen. Die mussten wir sammeln und hatten dann die Gelegenheit, sie einzutauschen, für z.B. eine erlassene Hausaufgabe. Hatten wir jedoch etwas angestellt, bekamen wir ein paar weggenommen, je nach dem, wie schwer das „Vergehen“ war. Wer keine hatte, die der Lehrer einkassieren konnte, dem wurden erst wieder Gutzettel verteilt, wenn sein Minus ausgeglichen war.

Irgendwann hatte ich ein Heft vergessen. Was macht Ani? Sagt, was Sache ist. „Ich habe mein Heft vergessen.“ Es war völlig selbstverständlich für mich, das zuzugeben.

Tja, leider wurde die Wahrheit bestraft. Mir wurden einige Fleißzettelchen weggenommen und ich musste mir eine Ansage anhören, die nicht gerade ermutigend war. Wollte ich das? Nein. Also schaute ich mir bei meinen Mitschülern ab, wie sie sich in solchen Situationen durchmogelten, was sie sagten und wie sie es sagten. Autisten sind ja Copy and Paste Meister, Ihr wisst schon…! Punktabzug passierte mir nie wieder. Hausaufgaben abschreiben konnte ich ab diesem Zeitpunkt in Lichtgeschwindigkeit, um 7.55 Uhr auf dem Boden der Pausenhalle, und mein Repertoire an Ausreden stieg von Schuljahr zu Schuljahr. Man musste ja für alle Fälle gerüstet sein.

Anderes Beispiel: Kopfrechnen mit der Klasse

Alle mussten aufstehen, der Lehrer nannte die Aufgabe und wer sie zuerst wusste, durfte sich setzen. Ich spüre immer noch dieses demütigende Gefühl, denn ich war lange Zeit eine der Letzten, die noch standen. Hochintelligenz hin oder her: Ich war und bin eine Null im Rechnen, ganz besonders im Kopf und unter Druck. Ich dachte lange, ich wäre die Einzige, die sich so anstellte. Falsch! Viele meiner Mitschüler waren kein bisschen besser. Sie hatten sich nur abgesprochen mit den Guten, die immer als Erste wieder saßen und ihnen dann ziemlich tricky und sehr erfolgreich die Lösung anzeigten. Als ich draufkam, habe ich deren Zeichensprache quasi dechiffriert. Ich war auch dann selten unter den ersten 10, aber die Letzte war ich nicht mehr.

„Ein Lüge ist eine bewusst falsche Aussage, in der Absicht, jemanden zu täuschen.“

Diese Definition ist sehr vereinfacht und auch nicht ganz richtig.

 

Von vorne:

Lügen haben viele Funktionen und man lernt es schon als Kind, und zwar egal ob neurotypisch, autistisch oder was auch immer. Selbst Menschen mit schwerer, geistiger Behinderungen können flunkern.

Man lügt, um keinen Ärger zu bekommen, um andere nicht zu verletzen, um sich das Leben zu erleichtern, um geliebt zu werden, aus Faulheit, aus Feigheit, um dazuzugehören (Ja-Sager), der Karriere willen, um sich einzuschmeicheln und sicherlich noch aus diversen anderen Gründen. Jeder lügt und jeder weiß, dass er selbst regelmäßig belogen wird. Männer sind im Durschnitt bessere und häufigere Lügner. Sie haben weniger oft ein schlechtes Gewissen dabei.

Und damit komme ich auch schon zu der wichtigsten Voraussetzung, um mit der Unwahrheit durchzukommen: Man braucht Empathie! Und die hat jeder Mensch. Auch Autisten.

Ich bin Autistin. Würde ich behaupten, ich könne nicht lügen, wäre das gelogen. Es ist ein Mythos, dass Autisten nicht lügen können.

Warum aber hält sich dieser Eindruck so hartnäckig?

Die beiden Seiten des Einfühlungsvermögens habe ich schon mehrmals erwähnt. Wer besonders feinfühlig ist, also über viel affektive Empathie verfügt, dem fällt die Unwahrheit schwerer, denn er hat in der Regel ein hohes Maß an Moral und neigt zu schlechtem Gewissen. Damit rumlaufen zu müssen, kann eine ziemliche Bürde sein. Drum meiden diese Menschen größere Lügen eher. Frauen haben im Durchschnitt mehr affektive Empathie als Männer, vermutlich evolutionär bedingt, denn sie müssen in der Lage sein, ihre Babys emotional zu binden.

Für eine richtig fette Lüge und/oder Manipulation braucht man vor allem den kognitiven Anteil der Empathie, also den, der wahrnimmt, denkt Lösungen findet und sich merkt, was gelaufen ist. Ein gewisses Maß an Intelligenz darf auch nicht fehlen. Man muss erkennen:

wie der anderer tickt,

welche Handlungen Konsequenzen auslösen, die man nicht haben will oder die man hervorrufen will,

und wie man jemanden so täuschen kann, dass unangenehme Folgen ausbleiben oder man einen Vorteil erlangen kann.

Außerdem sollte man sich daran erinnern können, was man erzählt hat, um sich nicht irgendwann selbst zu verraten.

Perspektivenübernahme kann man lernen. Jeder. Die einen besser, die anderen weniger gut.

Autisten eher weniger gut. Sonst hätten wir nicht diese Diagnose. Drum sind wir meist schlechte Lügner.

Wir sind außerdem, glaube ich, nicht dafür gemacht, anderen Menschen zu schaden. Wir wollen eigentlich immer eher behilflich sein. Das mag auch an unserer Lösungsorientierung und unserem Fokus auf Fakten liegen. Wenn wir lügen, uns also von Tatsachen entfernen, dann sind das eher Notlügen zum Selbstzweck. Zum Beispiel um eine unangenehme Situation zu überleben, um einen Overload und Schlimmeres zu vermeiden, um eigene Nachteile nicht allzu groß werden zu lassen, und weniger, um anderen eins auszuwischen oder einen eigenen Gewinn daraus zu ziehen.

Wir machen meist sehr früh die Erfahrung, dass unsere Wahrheitsliebe nicht gut ankommt.
Wenn ein Autist beispielsweise zu seinem Chef sagt: „Kein Bock auf Weihnachtsfeier“, macht er das genau einmal. Diese Art von Ehrlichkeit ist nämlich unerwünscht und das erfahren wir durch die Reaktionen unseres Gegenübers. Unser Verhalten gilt dann als sozial inkompetent. Also denkt Autist darüber nach, was andere tun und sagen in derartigen Situationen und guckt es ab. Wenn man überlegt, dass wir alle mehrmals am Tag angelogen werden, findet man dafür ausreichend Vorlagen. Die sozial gewollte Lüge könnte also lauten: „Ich muss dringend meine Mutter vom Flughafen abholen“, oder: „Mein Hund ist krank.“ Jeder Vollpfosten weiß, dass das Ausreden sind. Aber sie werden abgenickt und fertig. Und diese Art der Unwahrheit kriegt auch ein Autist hin.

Doch was ist zum Beispiel mit Vorstellungsgesprächen? Hier sind der Hang zur Ehrlichkeit und die mangelnde Perspektivenübernahme wirklich große Hindernisse für Autisten. „Weiß ich nicht“, ist in dieser Situation nämlich nicht die allerbeste Antwort, genauso wenig wie: „Das entspricht nicht so ganz meinem Interesse“ oder: „Das sehe ich anders.“ Auch ich habe schon mal ein Bewerbungsverfahren mit meiner Wahrheitsliebe und meiner Naivität verloren.
Die besten Kandidaten für Jobs sind selten die, die super Leistungen bringen. Dann wären viele von uns vornedran. Die, die das Rennen machen, sind diejenigen, die sich gut verkaufen können, egal wie doof sie eigentlich sind. Es fällt zwar irgendwann auf, wenn einer im Team nicht die hellste Kerze auf der Torte ist (RW), doch dann sitzen sie schon im Boot. Ihr Strategie ist aufgegangen.

Autisten müssen für Bewerbungssituationen weniger die Inhalte lernen als möglichst überzeugende Selbstdarstellung.

Und im Zwischenmenschlichen sieht es nicht viel besser aus. Ich kann meine Sympathie, meine Emotionen oft besser verbalisieren als zeigen. Auch das ist ziemlich typisch für Autisten. Der Ausdruck zeigt oft nicht, wie das Innenleben aussieht. Ehrlich auszusprechen, was man fühlt, kann für andere aber ziemlich befremdlich sein und wird schnell mal falsch verstanden. Ich sagte mal zu einem Jungen, dass ich ihn mag. Ich meinte das wörtlich und wollte damit nicht ausdrücken, dass ich mehr von ihm will. Dieses Missverständnis brachte mich ziemlich in Bedrängnis.

Überhaupt, die Sache mit dem wörtlich Meinen und dem direkten Ausdruck: Beides steht der „Lügenkompetenz“ ziemlich im Weg. Entweder ich rede drumrum und erfinde eine Ausrede oder ich sage, was ich denke. Ersteres ist für mich oft so kompliziert (siehe kognitive Empathie), dass ich mir diese Mühe nur mache, wenn ich eine Notlüge für die bessere Alternative halte. Ich bin zum Glück sehr selten in Situationen, in denen ich einen Exit brauche, seit ich nicht mehr arbeite. Meine größten Belastungen sind damit weggefallen und alle und alles andere verträgt die Wahrheit. Und wenn nicht, müssen sie trotzdem damit leben. Ich muss auch nicht mehr ständig aufpassen, dass ich selbst nicht belogen und manipuliert werde, dann das ist die andere Seite der eher unterentwickelten Fähigkeiten, mit Lügen umzugehen: Man erkennt auch nicht, wenn man verarscht wird.

Zusammenfassend würde ich sagen:

Der Mythos, dass Autisten nicht lügen können, hält sich deshalb so hartnäckig, weil das Vorurteil, dass wir keine Empathie hätten genauso tief verankert ist in den Köpfen der meisten Menschen, wie die Ansicht, wir seien gar nicht in der Lage, die Sicht eines anderen einzunehmen. Beides trifft zumindest für hochfunktionale Autisten so nicht zu.

Autisten haben die Neigung, Dinge so zu sehen, wie sie sind. Wir sind in der Regel nicht besonders gut darin, zu erkennen, was von uns erwartet wird. Wir tun uns schwer, inoffizielle soziale Regeln zu verstehen. Das macht aktives Lügen anstrengend und öffnet die Türen für alle, die einen Vorteil darin sehen, uns zu benutzen. Denn wir merken es oft erst, wenn es zu spät ist. Unser Gerechtigkeitssinn und unser Anspruch an Moral verbieten krasse Unwahrheiten.

Doch Notlügen sind auch für uns ein Instrument, um Nachteilen auszuweichen.

Autisten können lügen, doch sie tun es meinem Eindruck nach vor allem aus einem Motiv: Dem Selbstschutz.

Ob man meine Ehrlichkeit zu schätzen weiß oder sich eher daran stört, das überlasse ich der Perspektive meiner Mitmenschen.