Ist vollständige Heilung von Anorexie für jeden möglich?

„If I can do it, you can do it, too.”

Das ist das Kredo, das man eigentlich immer hört, wenn es um DIE zentrale Frage der ED Community geht, nämlich:

Kann jeder von einer Anorexie heilen?

Komplette Remission ist möglich, das steht inzwischen außer Frage. Es gibt zahlreiche und glaubwürdige Beispiele dafür, dass man frei von anorektischen Gedanken und Verhaltensweisen leben kann, sofern man bestimmte Regeln beachtet. Denn die Vulnerabilität für diese Erkrankung bleibt lebenslang.

Doch wer ist „man“, wer sind diejenigen, die so felsenfest behaupten, jeder könne komplett von einer AN heilen?

Es sind die jungen Podcaster, Influencer und Coaches, die meist vor ihrem 25 LJ geheilt sind. Es sind diejenigen, die ihre AN in der Regel unter 10 Jahre lang hatten und, zum Glück, keine Vorstellung davon haben, wie es ist, viele Jahrzehnte mit dieser Krankheit gelebt zu haben. Es sind die, die zum Zeitpunkt der Recovery noch ausreichend neuronale Verbindungen in ihren Gehirnen hatten, die im Gesunden etabliert wurden und durch die Kombi Erinnerung, Wiederernährung, Exposition und konsistentes Weg-üben der Verhaltensweisen wieder gestärkt werden konnten.

Fragt man die Älteren (auch unter den Fachleuten), die ihre AN 10, 20, 30 Plus Jahre mit sich herumgeschleppt haben, die unzählige vergebliche Heilungsversuche gemacht haben, deren Gehirne von den Folgen der Restriktion und der vermeidenden Verhaltensweisen umgebaut wurden, deren gesunde Verknüpfungen so untergraben sind, dass sie nicht mehr reaktivierbar sind, und die keinerlei Erinnerung mehr haben an das „Davor“, ist die ehrliche Antwort meist entweder: Nein, geheilt bin ich nicht. Oder: Geheilt ja, aber irgendetwas bleibt.

Auch ältere und langjährige Betroffene erreichen vollständige Heilung. Wir wissen nicht in welchem Prozentsatz, doch es ist eindeutig, dass je länger die AN wütet umso schwerer ist der State „komplette Remission“ erreichbar.

Es gibt unabdingbare Voraussetzungen für vollständige Heilung, die erwachsenen Betroffenen oft fehlen:

Eine Familie, Freunde. Ein helfendes, geduldiges, informiertes, offenes und essensgesundes Umfeld. Denn allein schafft es kaum jemand aus den Klauen der AN. Und Mitmenschen, die Ernährungsregeln aufstellen, jeden Morgen auf der Waage stehen, permanent am Sporteln sind und etwas gegen Gewichtszunahme haben, lassen keine Chancen auf Heilung. So ein Umfeld ist leider eher die Regel als die Ausnahme!

Es gibt grundsätzlich keine vernünftigen Aussagen zur Heilungsquote bei AN, geschweige denn gestaffelt nach Alter, Erkrankungsdauer und Komorbiditäten. Wir gehen davon aus, dass wir eine von fünf Betroffenen an die AN verlieren (durch Nieren-, Herzversagen und Suizid), und vermutlich nur eine von zehn vollständig und dauerhaft heilen können. Ein paar statistische Daten (USA) gibt es hier.

Gründe für diese Forschungslücke sind vielfältig. Einen davon hat, glaube ich, kaum jemand wirklich auf dem Schirm:

Viele Anorexies, die sich als geheilt bezeichnen, sind davon überzeugt, es zu sein. Und liegen mit dieser Annahme falsch.

Dass sie glauben, sie seien „fully recovered“, liegt zum einen an „Fachleuten“, die Gesundheit als Abwesenheit von DSM Kriterien definieren, die vermitteln, dass ein Zyklus, ein Minimumgewicht und ein bisschen Arbeit an der Psyche geheilt bedeuten, und zum anderen an einem Phänomen, dass die Erkrankung selbst hervorbringt.

Das lässt sich am besten beispielhaft beschreiben:

„Ich habe ein paarmal Pizza gegessen, das reicht doch.“

„Ich bin doch wieder mit Leuten ins Kino gegangen.“

„Ich gehe wieder zur Schule, Uni…“

„Ich habe jetzt einen BMI von 18.“

„Ich mach nur noch ein bisschen Sport.“

„Ich kann doch 3 x täglich essen, wenn ich muss.“

„Ich kann auch etwas anderes essen als mein Gewohntes, wenn ich muss.“

„Ich kann 10 Minuten später essen, wenn ich es vorher weiß.“

„Ich kann das jetzt alles, ich bin geheilt“, sagt AN, um bleiben zu dürfen. Und sie ist dabei so überzeugend, dass alle es glauben, auch das Umfeld. Außer denjenigen, die dieses Spiel kennen 😊. Doch diesen Zustand kann man bestenfalls als pseudo geheilt bezeichnen (quasi recovery).

 Die Mehrzahlt der Betroffenen verharrt in diesem Zustand für zu viele Jahre, und sie gelten statistisch als geheilt!

 

Die Regeln für vollständige Heilung sind für alle gleich:

Wiederernährung, in der Regel in den mittleren BMI (es gibt Ausnahmen in beide Richtungen, man merkt Heilung vor allem am Denken und Verhalten, mehr noch als an den Körperfunktionen).

  • Rigoroses Löschen aller Ernährungsregeln
  • Konsistentes und konsequentes Üben neuer, anti- AN- Verhaltensweisen
  • Gewichtsneutralität
  • Körperakzeptanz
  • Soziale Kontakte
  • Selbstwert, Selbstachtung, Selbstakzeptanz, Selbstwirksamkeit, Selbständigkeit und Eigenverantwortung stärken
  • Entscheidungskompetenz üben
  • Grenzen erkennen und Grenzen setzen
  • Sichtbar werden, Raum einnehmen
  • Zwänge, insb. Bewegungszwang ablegen
  • Restriktives Mindset in allen Lebensbereichen beenden

Nie wieder ein Hungerhoch anstreben = Minimum 5 Mahlzeiten am Tag und nie wieder Diät (auf keinen Fall vegan, keto o.ä.), nie wieder ein (stunden)-langes Energiedefizit.

Die mit Abstand wichtigste und gleichzeitig für langjährige, erwachsene AN am schwierigsten erreichbare Voraussetzung für komplette Heilung ist ein wiederernährtes Gehirn.

Ohne Treibstoff im Oberstübchen sind oben genannte Notwendigkeiten nicht in dem Maße erreichbar, dass dauerhaft zu heilen und geheilt zu bleiben möglich werden. Ganz abgesehen von den bestehenden Schäden langjähriger Restriktion, die irgendwann nicht mehr reparabel sind und bestimmte Entwicklungen verhindern können.

Menschen mit chronifizierter AN, ein Ausdruck, den viele junge Coaches und Therapeuten ablehnen, der aber sehr valide ist, leiden unter dem, was man pathologische Restriktion nennt, auch bekannt als „unüberwindbare Tendenz zu zu wenig“. Jeder, der diese Erkrankung hat(te), kennt diesen Sog: Je länger die AN besteht, umso mehr verschwindet das Gefühl für „ausreichend“, für „genug“, egal ob es um Geldausgeben, Essen ausreichend portionieren oder sich Ruhe gönnen geht: Irgendwann ist die migrating response (Migrationsantwort) überall. In diesen Fällen ist es gefährlich, intuitive Ernährung üben zu wollen und Essens- und Zeitpläne kategorisch zu verteufeln. Ernährung spontan und nach Gefühl geht für viele ältere AN lange nicht mehr und manchmal nie mehr. (Schon aus diesem Grund braucht es hier auch eine andere Definition für geheilt.)

Wer es dann nicht schafft, mechanisches Essen ausreichender Mengen und Variabilität zu lernen und ein Gewicht oberhalb des Minimums zu erreichen und zu akzeptieren, kann nicht vollständig heilen, egal wie intensiv an begleitenden Problematiken gearbeitet wird.

Anorexie ist eine extrem kräftezehrende Erkrankung. Der Spagat zwischen den Anforderungen des Lebens und denen der AN, ist nach Jahren der Krankheit kaum mehr zu bewältigen. Die „lauten“ und verurteilenden Gedanken (die Stimme) und die denen folgenden Zwangshandlungen, der exzessive Bewegungsdrang im Hungermodus, Ängste, Panikstörungen, soziale Isolation bis hin zur Sozialphobie, ganz abgesehen von den körperlichen Folgen, kosten mehr Energie als ein Mensch mit AN tatsächlich haben kann. Anorexies leben ständig im Minus, das sich aufsummiert, je länger dieser Zustand besteht. Aus einem langjährigen Defizit an „Lebens“- energie noch ausreichend Power für die Anforderungen einer vollständigen Heilung aufzubringen, ist für einen großen Teil dieser Menschen nicht mehr möglich. Der Weg zu kompletter Gesundung ist lang, unfassbar schwer und im Ergebnis oft nicht mehr vorstellbar. Manche haben tatsächlich auch zu wenig Lebenszeit übrig, die es noch bräuchte für „full recovery“, für einen Zustand ohne AN Gedanken und Verhalten und der Fähigkeit, zu essen, was, wann und soviel man will. Für diese Betroffenen ist das oft so verteufelte „quasi recovery“ ein Weg, der es ihnen möglich macht, sich besser zu ernähren und damit auch ihre Lebensqualität aufzuwerten.

Für Euch junge Leser:innen sollte quasi recovered kein akzeptabler Zustand sein.

Ihr denkt, Ihr habt die AN unter Kontrolle? Nein. Die Krankheit kontrolliert alle, die sie haben, bis Ihr Euch entscheidet, die Regeln zu Euren Gunsten zu ändern, und es tut!

Geht in die richtige Richtung, solange Ihr noch könnt. Denkt nicht, Ihr werdet dieses Geschehen immer im Griff haben. Glaubt nicht, der Point of no Return ist für andere, für Euch wird er nie kommen. Entscheidet Euch für „full recovery“, bevor es nicht mehr geht. Denn eines ist klar:

Heilung ist möglich. Doch die Annahme, dass JEDE® jederzeit vollständig heilen kann, ist falsch!