Da macht man als Mutter und Vater monatelang mit seinem anorektischen Kind Home-Treatment. Man hört von den Therapeuten, dass man die Kids nicht aus den Augen lassen darf, dass man alles kontrollieren muss. Und nebenbei ist man den ganzen Tag und manchmal auch nachts damit beschäftigt, sich Anorexiefeindliche Kochgerichte zu überlegen. Man bereitet sie zu, tischt sie auf, und wischt sie auf, wenn die AN mal wieder keinen Bock hat. Denn auch wenn diese Kinder, von denen hier die Rede sein soll, mit Ü 18 keine Kinder mehr sind, hat ihnen die Krankheit jegliche Möglichkeit geraubt, sich emotional und kognitiv so zu entwickeln, wie gleichaltrige, gesunde junge Menschen. Sie reagieren oft nicht altersgemäß und AN ist sowieso das Gegenteil von Vernunft. 

Rebellion findet nicht in der Schule statt oder unter Gleichaltrigen oder mit den Eltern, weil man bis 2 Uhr nachts unterwegs sein will während die vorsintflutlichen Oldies 0 Uhr als Deadline vorgeben. Nein. Anorexies sind brav, anpassungsfähig, nett, gewissenhaft, pflegeleicht. Weggehen wollen sie eh nicht und Schule und Leistung sind ein adäquater Ersatz für Freunde. Und fürs Essen. Bis die Eltern die Unverschämtheit besitzen, der treuen Begleiterin namens ANA den Kampf anzusagen. Dann ist Schluss mit der Anpassungsfähigkeit und Fight, Flight, Freeze sind Dauergäste im elterlichen Esszimmer. Widerstand ist für das, was dann abgeht, eine mittlere Untertreibung. Doch mit steigendem Gewicht und sinkenden Ängsten findet nicht nur der Körper sein Gleichgewicht wieder, sondern auch das Gehirn. Essen wird zunehmend weniger problematisch, die Kilos bleiben konstant am eigentlich nicht mehr Kind, sie oder er ist wieder ansprechbar, sogar über die Krankheit kann man plötzlich reden. Alle erfreuen sich zurecht an der Besserung, haben schon fast das Gefühl, die Tochter/der Sohn ist gesund. Trotzdem behalten Mama und Papa besser die Kontrolle, denn die Krankheit ist unbere-chenbar. Vorsicht ist das Gebot der Stunde. 

Und dann fällt man vom Glauben ab, wenn Ü 20 eines Tages daherkommt und verkündet: „Die Therapeutin hat gesagt, wenn ich ganz gesund werden will, muss ich ausziehen.“ 

Erst soll man überwachen wie einst von Orwell beschrieben, und plötzlich gilt das nicht mehr, oder was? 

Genau. (Wohlgemerkt, wir reden von jungen Erwachsenen, nicht von Kindern.) 

Eines ist mal klar, auch wenn auf YouTube oft anders dargestellt: Refeeding, also die Wiederernährung, kriegt keiner mit einer manifestierten AN allein hin. Zumindest nicht so, wie es sein muss, um zu heilen. Wer „all in“ aus eigenem Antrieb und ohne Hilfe schafft, hat vielleicht eine andere Diagnose. AN ist von schwersten Ängsten vor Essen und Gewicht begleitet und das, was buchstäblich Todesangst einjagt, entwischt jedem noch so starken Willen. Schließlich ist unser Gehirn von jeher dazu gemacht, uns vor Gefahren zu bewahren. Das heißt, der Teil mit dem Essen, einer der wichtigsten Voraussetzungen für Heilung, muss für eine Weile aus der Entscheidung der Erkrankten outgesourced werden. Die Grundlage zu schaffen für ein anorexiefreies Leben, ist also bestenfalls erstmal Aufgabe der Eltern. Glück für diejenigen, die auch jenseits des Kindesalters auf diese Ressource zurückgreifen können. 

Nun muss man eines wissen: Hat sich die Anorexie einmal im Menschen festgesetzt, und mit Ü 20 hatte sie dafür in der Regel lange genug Zeit, verursacht sie einen Flächenbrand. Geld, Freundschaft, Beziehungen an sich, Entscheidungsfähigkeit, sucht Euch etwas aus, alle Bereiche des Lebens sind betroffen. Außerdem programmiert die Krankheit das Hirn so um, dass selbst Betroffenen lange verborgen bleibt, wo sie sich noch versteckt, nach dem Refeeding, den Fearfood-Challenges, den intensiven Gedanken rund um Ziele, Werte und Co und der Arbeit am Bodyimage. Dieses AN-typische Versteckspiel funktioniert ganz besonders gut in der heimischen Komfortzone. Bei Mama am Tisch ist Essen wieder ganz easy, man kann auch mit der Familie ins Restaurant, man geht wieder zur Uni, man lernt nicht mehr ganz so viel, man unterhält sich über dies und das, ist offener und ansprechbar, hat ein paar mehr Interessen. Ist doch alles gut! Bin gesund. Denkt man. Bis man sich nach dem ersten wirklichen Lebenssturm in einem handfesten Rückfall wiederfindet. Damit hat man nicht gerechnet. Man hat zwar ein bisschen Selbstverantwortung gelernt, was das Essen betrifft und die Bewegung, aber was in diesem Begriff sonst noch steckt, wie wichtig Selbstwirksamkeit ist, wie notwendig es ist, zu lernen, wie man Krisen erkennt und sie anders bewältigt als mit dem altbewährten Mittel des Hungerns, das war nicht klar. Haben ja alles Mama und Papa geregelt. Und der Märchenprinz lag auch nicht unterm elterlichen Sofa, oder wie war das noch mit der eigenen Familie? Dass die Mama nicht die beste Freundin sein sollte und die Schwester oder der Bruder auch nicht, dass es durchaus Sinn macht, noch ein paar Leute außerhalb des engen Kreises zu kennen, das und einiges mehr hat die Coach zwar immer gesagt, aber was weiß die schon? 

Die weiß, dass man mit der Persönlichkeit einer AN und mit all den Spuren, die diese Erkrankung hinterlässt, nicht gerade zu denen gehört, die die Fülle des Lebens erfunden haben. Die das Abenteuer suchen und sich voller Selbstvertrauen und Spaß an Herausforderungen ins Leben stürzen. Lieber verzichtet man auf Erfahrung und Entwicklung zugunsten einer etwas ruhigeren Amygdala, die nicht bei der kleinsten Unbekannten einen Hurricane im Oberstübchen auslöst, mit allen bekannten Nebenwirkungen, die man nicht spüren will. Jetzt ist das nur leider so, dass anorektisches Denken und Verhalten überschrieben werden müssen, und zwar mit neuen Erfahrungen, die man nicht macht, wenn man alles gemacht bekommt. Recovery muss sich bewähren, im echten Leben, unter widrigen Umständen, die dieses nun mal mit sich bringt. Nur dann wissen Betroffene, wo es noch hakt, was sie noch lernen müssen und was sie schon können. Im kalten Wasser ist es unbequem, doch wer nicht frieren will, der lernt darin zu schwimmen. Im warmen heimeligen Nest bleibt die AN ruhig, aber oft ist das die Ruhe vor dem Sturm, denn Krisen machen auch vorm Elternhaus nicht Halt. 

Wenn Menschen mit der Erfahrung einer Anorexie eines wirklich können, dann verzichten. Darin liegt die Gefahr. Wer zu wenig lebt, wer nur über seine Werte und Ziele nachdenkt, sie aber nicht verfolgt, wer sich lieber an Wünschen und Bedürfnissen anderer orientiert und sich einredet, das seien die eigenen, ohne das Leben jemals selbst probiert zu haben, der vernachlässigt sich selbst. Und nichts liebt die AN mehr, als ein Opfer, das nicht auf sich achtet, für sich einsteht und eigene Entscheidungen trifft! 

Selbstvertrauen, Selbstwert, Selbstachtung, Selbstverantwortung und Selbstwirksamkeit sind neben einer regelmäßigen, ausreichenden Ernährung ohne Regularien die besten Mittel der Rückfallprofilaxe. Und all diese Selbst-Dinge lernt man eben nur selbst. 

Auch wenn es gleichermaßen schwer ist für Eltern und für Betroffene: Irgendwann müsst ihr Eltern die Kids aus dem Bau werfen. Wenn Mama und Papa nicht loslassen, weil die AN noch nicht ganz weg ist, hält man die AN im jungen Menschen. Und wenn man als junger Mensch nicht geht, weil die AN es immer noch schafft, angstvolle Geschichten ins Gehirn zu beamen, die sich anfühlen, wie die Stimme der Wahrheit an sich, dann wird man nicht gesund. 

Gesund wird man nur, wenn man es a: will und wenn man b: bereit ist, die eigene Kuschelzone zu verlassen. 

Also: Gehen oder bleiben? 

Gehen! Leben ist Risiko und Recovery passiert im Leben.