Restriktionen: Der Grund allen Übels

Wenn man den Begriff „restriktive Essstörung“ hört, denkt man zuerst an ausgemergelte Menschen mit Anorexie und zuletzt an jemanden, der unter einer Binge Eating Störung leidet.

Doch stellen wir nochmal klar:

Essstörungen erkennt man nicht am Gewicht. Das gilt auch für die Prototypen aller restriktiven Essstörungen, die Anorexia nervosa (AN) oder einen bestimmten Typ der Avoidant Restrictiv Food Intake Disorder (ARFID), der sich kaum von AN unterscheidet.

Anorexie ist eine Besonderheit unter den Essstörungen. AN ist eine Stoffwechselerkrankung des Gehirns, ausgelöst durch ein kalorisches Energiedefizit und dem damit einhergehenden Absinken des Körperfettanteils. Diese Krankheit manifestiert sich in Denk- und Handlungsmustern, die neuronale Bahnen in den Gehirnen bilden. Gleichzeitig werden diese Gewohnheiten zu (gewichts-) angstvermeidenden Verhaltensstrategien und zu Bewältigungsmechanismen für alles, das das Leben schwer machen könnte.

Und Bulimie und Binge- Eating sind neben deren eigener bio- psychologischer Komponenten körperliche Reaktionen auf einschränkende, also restriktive, Ernährungs- und Denkmuster.

Summa Summarum sind Essstörungen ein Spektrum, ausgelöst durch ein und dieselbe Problematik:

Restriktives Essverhalten und restriktives Denken.

Restriktiv bedeutet einschränkend, beschränkend.

Dass man seine Lebensmittelauswahl ein- oder beschränken kann, leuchtet ein. Auch, dass das Folgen haben kann. Aber wie kann man restriktiv denken und warum ist das genauso gefährlich, wie dem Köper Nahrung zu versagen, vor allem für diejenigen mit Essstörungen?

Restriktionen zeigen sich auf vielfältige, mal mehr mal weniger offensichtliche Art und Weise:

 Physische/körperliche Restriktion

  • Man nimmt weniger Kalorien auf als man verbraucht, unabhängig von der Ernährungsform
  • Man verbraucht mehr Energie als man aufnimmt
  • Man bekommt zwar ausreichend viel Energie, aber bestimmte Nahrungsmittelgruppen fehlen. (Durch das Weglassen bestimmter Lebensmittel entsteht, gewollt oder ungewollt, fast immer auch ein Kaloriendefizit und/ oder ein Nährstoffmangel.)

 

Gängige Verhaltensweisen, die körperliche Restriktion definieren:

 Kalorienzählen:

Man hat eine bestimmte Anzahl an Kalorien für sich festgelegt, die man nicht überschreiten darf. Das, was man isst und wie viel davon, wird von dieser magischen Zahl bestimmt. 

Makro- und Mikronährstoffe zählen:

Das Prinzip ist dasselbe, nur dass hier nicht Kalorien berechnet werden, sondern Eiweiß, Fett, Kohlenhydrate und andere Nährstoffe. Die dürfen dann einen bestimmten Prozentsatz im Essen nicht über- oder unterschreiten. Diese Art der Restriktion ist sehr beliebt in Sportlerkreisen, insbesondere bei Kraftsportlern. 

Nahrungsmittelgruppen vermeiden:

Hier reden wir von der Low Carb-, Keto, low Fat- usw.- Bewegung. Ein- oder mehrere dieser Bestandteile werden von den Anhängern dieser Ernährungsformen nahezu komplett ausgeschlossen.

 Essen abwiegen, Mengen festlegen:

Auch hier darf eine vorbestimmte Mengenangabe nicht überschritten werden. Vorlagen dafür geben manchmal Ärzte, die die „friss die Hälfte“ Diät verordnen, Ernährungsberater, die entsprechend Vorgaben machen oder Vorbilder in den sozialen Medien.

Körpergewicht wiegen, Körperzusammensetzung checken

Man erlaubt sich nur ein bestimmtes Gewicht und/oder einen festgelegten Körperfettanteil.

Wird dieser Zielwert überschritten, ist die Laune im Keller. Die Stimmung wird von der Zahl auf der Waage bestimmt.

Unflexible Ernährungspläne:

Ernährungspläne werden häufig bei Essstörungen verschrieben, vor allem bei Anorexie. Sie haben hier definitiv ihre Berechtigung, sofern sie richtig, also flexibel und in den Kalorien nach oben offen (= mehr darf immer), angewendet, anstatt wie so häufig akribisch genau abgearbeitet werden. 

Fasten-/Intermittierendes Fasten:

Fasten ist ultimative Restriktion. Es darf in der Regel fast nichts gegessen werden. Intermittierendes Fasten in all seinen Formen ist nichts anderes als Restriktion. 

Detox:

Detoxen ist eine Art fasten, egal ob aus religiösen oder sonstigen Gründen.

Ausdauertraining:

Kaum jemand kommt auf die Idee, Ausdauertraining als Restriktion zu bezeichnen. Tatsächlich wird durch Sportarten wie Laufen, Rennradfahren u.a. ein momentanes Defizit im Körper kreiert, mit allen notwenigen Anpassungen, die unser schlauer Body vornimmt, um einen Mangel an Energie zu vermeiden. Die Stoffwechselvorgänge werden schon während des Sportes gedrosselt, man verbraucht mit zunehmendem Training immer weniger Energie und auch der Nachbrenneffekt nach dem Sport, der bei Endurance Sportarten geringer ist als beim Kraftsport, fällt nahezu weg. Gleichzeitig wächst der Hunger, insbesondere nach schnell verwertbaren Kohlenhydraten. Das Gehirn versucht damit, für Ausgleich zu sorgen. Kommt man diesen Signalen nicht nach, wird Ausdauertraining zu einem wesentlichen Faktor des Energiedefizites, vor allem dann, wenn man versucht, die Adaptionsvorgänge des Körpers durch immer mehr Training und immer weniger Kalorienzufuhr auszugleichen.

Bevorstehende körperliche Restriktion (Impending Restriction).

Bevorstehende körperliche Restriktion nimmt eine Limitierung der Nahrungszufuhr vorweg.

Man isst etwas und nimmt sich vor, dieses Lebensmittel, diese Mahlzeit nie wieder zu essen.

Oder man erlaubt sich nur eine ganz bestimmte Menge von etwas, nur ein Stück Pizza anstatt sie ganz zu essen.

Man isst Salat anstatt Pommes.

Man verbietet sich das Dessert nach dem Essen.

Intermittierendes Fasten ist eine klassische Form der bevorstehenden Restriktion. Man darf nur einmal am Tag essen und den Rest des Tages nicht. Man hat nur ein sechs Stunden Fenster, in dem Essen erlaubt ist, usw.

Jede Art und Weise, die dem Körper zeigt, dass eine Hungersnot bevorsteht, ist impending restriction.

 

Folgen physischer/körperlicher Restriktion:

Die Folgen physischer/ körperlicher Restriktion sind bekannt. Kaloriendefizit und Nährstoffmangel führen schon innerhalb von 48 Stunden zu einer Reduzierung der Stoffwechselrate, was sich überall im Körper negativ auswirkt, vor allem auch im Gehirn. Anfangs bleiben die Schäden noch unbemerkt, doch je länger das Energiedefizit besteht, umso spürbarer werden die Auswirkungen.

Energiedefizit ist die einzige Voraussetzung für die Veränderungen im Hirnstoffwechsel, die eine Anorexie auslösen.

Kein Energiedefizit, keine AN.

Keine genetische Veranlagung für AN, keine AN trotz Energiedefizit.

 

Eine der Folgen von Mangelernährung ist, dass die meisten Menschen in diesem Zustand ständig an Essen denken und irgendwann anfangen, sich zwanghaft damit zu beschäftigen. Das ist ein Hilfsmechanismus des Gehirns, um Verhungern zu vermeiden. Man denkt dabei vor allem an die Lebensmittel, die man sich nicht erlaubt oder an den Nährstoff, den der Körper gerade dringend braucht. Meist handelt es sich dabei um kohlenhydrat- und fettreiche Lebensmittel. Das sind die Angstmacher schlechthin für alle, die Wert auf ein möglichst niedriges Körpergewicht legen und die Nummer Eins Fear Foods der Menschen mit Essstörungen.

Diesen fast schon obsessiven Geisteszustand nennt man: „Mental Hunger“, mentalen Hunger.

Aus Angst vor Gewichtszunahme wird diesem mentalen Hunger nur allzu oft nicht nachgegeben. Das nennt man dann:

Mentale Restriktion

Mentale Restriktion ist das, was im Kopf passiert. Diese Gedanken führen uns in vermeidende Denk- und Handlungsmuster und verfestigen oder kreieren dadurch häufig gleichzeitig eine physiologische, eine körperliche Restriktion.

Mentale Restriktion erkennt man an Glaubenssätzen und daraus abgeleiteten Regeln, die selbst dann wirken, wenn der Körper nicht in einem realen Energiedefizit ist.

Schwarz -Weiß-Denken:

Man teilt Lebensmittel auf in erlaubt, nicht erlaubt, gesund und ungesund.

Kuchen ist ungesund, Salat ist gesund. Selbst wenn der Salat mit einer fetten Soße angemacht wird, zieht man ihn den Pommes vor, allein weil Salat draufsteht und das Wort positiv besetzt ist.

Man erlaubt sich nicht, zwischen den Mahlzeiten zu essen, auch dann nicht, wenn man Hunger hat. Essen wird aufgeschoben und hinausgezögert und orientiert sich an Uhrzeiten.

Man macht sich etwas vor/erzählt sich Geschichten:

„Ich ernähre mich intuitiv, ich esse nur, wenn ich hungrig bin und hör auf, wenn ich satt bin. Und ich mag gesunde Sachen viel lieber.“ Das ist ein missbräuchliches Verständnis von intuitiver Ernährung.

Ich könnte Kuchen essen, ich mag aber gar keinen.

Übertreibungen:

Ich esse nur noch heute Schokolade, dann nie wieder.

Ab morgen esse ich nichts mehr.

Wenn ich erstmal dünn bin, esse ich alles, was ich will.

Wenn ich Pizza esse, werde ich fett.

Ich darf nie wieder Eis essen.

Sozialer Druck:

Essen, was andere Essen, um dazuzugehören. Veganismus ist hier das klassische Beispiel.

Glaubensmuster (auch religiöse):

Mein Körper ist vergiftet. Ich muss regelmäßig detoxen.

Ich muss einmal im Monat drei Tage fasten

Ich darf mir nichts gönnen

Sündigen

Sollte- Statements, die selbst dann wirken, wenn wir uns nicht daran halten:

Ich sollte weniger essen.

Ich sollte das nicht essen.

Ich sollte nur das essen.

Ich sollte mal wieder eine Diät machen

Ich sollte eine andere Diät machen 

Sport als Ausgleich:

Ich muss mich bewegen, um essen zu dürfen oder ich muss Essen abtrainieren.

Essen einsparen:

Es gibt eine Feier, also darf ich vorher nicht essen.

 

All diese Selbstgespräche und die daraus folgenden Handlungen signalisieren dem Gehirn:

Mein Mensch wird mich für immer hungern lassen.

Diese Hungersnot ist nie zu Ende.

Mentale, also gedankliche Restriktion ist den Menschen oft nicht bewusst. Sie merken zwar, dass sie so denken, aber sie wissen nicht, dass diese Denkmuster nichts anderes sind als permanente Affirmationen. Sie wirken unterbewusst so auf das Gehirn, dass es dem Körper alle Signale sendet, die ihn auf eine Hungersnot vorbereiten und befähigen, mit einem Energiedefizit umzugehen.

Das ist selbst dann so, wenn insgesamt im Tagessoll ausreichende Mengen gegessen werden. Restriktives Denken und danach Handeln reicht, um eine Anorexie nicht heilen zu lassen und/oder eine Binge Eating Erkrankung oder eine Bulimie auszulösen.

Körper reagieren unterschiedlich sensitiv auf tatsächlichen oder (mental) drohenden Energiemangel.

Diejenigen mit einer rein restriktiven Anorexie können aufgrund des veränderten Stoffwechsels im Gehirn und dessen Wirkung auf den Körper und die Psyche über Monate mit wenig Essen auskommen und sich sogar noch intensiv bewegen, ohne das Energiedefizit zu spüren. Andere dagegen reagieren sehr schnell mit unstillbaren und unkontrollierbaren Fressanfällen. Kommt dann die Angst vor Gewichtszunahme hinzu, sind Binge- Eating, Binge- Purge- Anorexie oder Bulimie eine nahezu unvermeidbare Folge. Den Wechsel zwischen Phasen der Restriktion und denen der Völlerei nennt man Pendelrestriktion.

Pendelrestriktion

Pendelrestriktion bedeutet, der Druck der Signale des Gehirns zu essen, wird so groß, dass man den Fressanfällen irgendwann nachgeben muss. Draus folgen wieder negative Gedankenspiralen und Selbstgespräche, die Essensregeln werden wieder verschärft. Es wird erneut restriktiv gegessen, und sei es nur für einige Stunden am Stück (intermittierendes Fasten) und schon zwingt das Gehirn in die nächste Binge Attacke. Ein nicht enden wollender Kreislauf beginnt. Dabei sind „Binges“, also Fressanfälle, bei denjenigen ohne Binge Eating Erkrankung oft in der Menge nicht mehr als ein Tagessoll, das der Körper auf diese Weise einfordert.

Kommen Erbrechen oder Sportzwang hinzu, die das körperliche Energiedefizit massiv verstärken, ist die Bulimie geboren oder eine restriktive Anorexie ist in eine Binge- Purge Anorexie übergegangen.

Anorexie Patienten in Recovery sind nach der Wiederernährung zwar körperlich geheilt, die mentalen Restriktionen bleiben jedoch oft noch lange erhalten. Und damit auch die Ängste vor dem Essen und vor der Gewichtszunahme. Wer von dieser Krankheit betroffen ist, und mittels Gedanken und Handlungen seinem Gehirn und seinem Körper ständig mit einer neuen Hungersnot droht, der kann nicht gesund werden. Werden diese Denkmuster nicht gezielt angegangen, ist ein Rückfall in die akute Phase der Erkrankung nahezu unvermeidbar. Es ist kein Argument, weder für Ärzte noch für Therapeuten, Eltern oder Freunde, dass doch alle in unserer Gesellschaft irgendwelchen mentalen Vorgaben folgen, das Essen betreffend. Dass das doch normal sei.

Wenn etwas normal ist, das schadet, sollte man diese Norm dringend hinterfragen.

Diejenigen ohne eine Veranlagung zu Essstörungen, haben meist keinen Anlass, ihre Glaubensmuster zu hinterfragen, denn sie haben keinen Leidensdruck oder ihre Vorteile überwiegen derart, dass sie an ihrem Denken und Verhalten festhalten wollen. Doch für alle, die unter einer Essstörung leiden, ist die mentale Restriktion einer der Hauptgründe für eine Chronifizierung der Erkrankung.

Zusammenfassung:

Je mehr man versucht, seine Ernährung zu kontrollieren, umso weniger Kontrolle darüber hat man tatsächlich.

Kurzfristig mag es funktionieren, dass man mit Willenskraft steuern kann, was man wann und in welcher Menge isst. Werden die Regeln jedoch zu rigide und gleichzeitig das Energiedefizit zu groß, übernimmt das Gehirn das Kommando. Die schwerwiegendsten Folgen dieses Restriktionskreislaufes sind Essstörungen wie Binge- Eating, Bulimie und Anorexie.

Für diejenigen mit Essstörungen reicht es nicht aus, lediglich die Folgen der körperliche Restriktion zu heilen.

Auch hier nochmal: Man sieht diese Schäden nicht zwangsläufig am Gewicht oder am Körperumfang!

Auch ein Zielgewicht festzulegen, kann dem Körper weiterhin signalisieren, dass er nicht frei entscheiden darf, in welchem Bereich er am besten funktioniert. Das passiert zwar besonders dann, wenn dieses „goal weight“ zu niedrig angesetzt wird, aber tatsächlich ist die Heilung nur dann abgeschlossen, wenn jegliche körperlichen, psychischen und mentalen Symptome verschwunden sind und Betroffene gelernt haben, wie sie gesund bleiben können; auch dann, wenn die ganze Welt meint, besser zu wissen, was gut für sie ist als sie selbst.