Und wie man Rückfälle verhindert.

Nochmal zu den Grundlagen:

Anorexia nervosa ist eine komplexe bio-psycho-soziale Erkrankung, deren Entstehung eine genetische Veranlagung erfordert. Sie wird durch ein Energiedefizit ausgelöst. Verschiedene Umweltfaktoren, vorbestehende körperliche oder psychische Erkrankungen sowie individuelle Persönlichkeitseigenschaften können dazu beitragen, dass sich die Essstörung manifestiert und verstärkt. Die AN hat entweder sofort oder sie nimmt im Laufe der Zeit eine wichtige Funktion im Leben der Betroffenen ein, wobei diese in den unterschiedlichen Lebensspannen variieren kann.

Es gibt weder unter Fachleuten noch unter (ehemalig) Betroffenen eine einheitliche Ansicht darüber, ob (und wie) Anorexie vollständig heilbar ist, in dem Sinne, dass gar nichts mehr spürbar ist und die Problematik nie wieder auftritt. Die Erkrankung ist sehr individuell und vielschichtig. In Fachkreisen benutzen wir deshalb den Terminus der Remission. Remission bezeichnet eine Reduzierung (= teilweise Remission) oder dauerhafte Abwesenheit (= vollständige Remission) von Symptomen.

Einige Gründe, warum es schwer ist, zu bestimmen, ob und wann eine Heilung passiert:

Rückfallrisiko: Anorexia nervosa birgt ein hohes Risiko für Rückfälle. Selbst wenn Betroffene eine Zeit lang symptomfrei sind, können sie in stressigen Situationen oder durch ihre individuellen Auslöser wieder in alte Verhaltensmuster zurückfallen. Habituation (Gewohnheitshandeln) ist ein starker Treiber der AN.

Individuelle Unterschiede: Jeder Patient hat eine einzigartige Krankheitsgeschichte, was eine standardisierte Definition von Heilung erschwert.

Subjektives Empfinden: Die Wahrnehmung von Heilung ist für jeden Betroffenen individuell. Wenn persönliche Ziele auf dem Weg zur Genesung erreicht sind und die Lebensqualität den Vorstellungen entspricht, kann das für diese Person als Heilung gelten.

Gewicht ist nicht gleich Heilung: Es ist wohl eine der größten Fehlannahmen, dass ein normales Gewicht mit Heilung gleichgesetzt werden kann. Das mag für den körperlichen Aspekt der Erkrankung gelten. Hier ist Refeeding, sofern notwendig (vergl. atypische AN), ein wesentlicher Faktor. Das Verhalten und die Einstellung gegenüber Essen und dem Leben an sich, die Gedanken, die „Stimme“, das Kompensationsverhalten, sowie insbesondere die Arbeit an den Hintergründen und Funktionen der Erkrankung spielen eine mindestens so zentrale Rolle. Ohne das kann Heilung nicht vollständig sein.

Komplexität der Genesung: Der Weg zur Genesung ist nie geradlinig. Wer scheinbar „durchmarschiert“, lebt gefährlich. Da fehlt etwas. Das ist eine Erkenntnis, bei der wir uns ausnahmsweise mal einig sind.

Restrisiken: Selbst wenn sich jemand geheilt fühlt und/oder körperlich rehabilitiert ist, können restliche Problematiken, wie Körperbildstörungen, Ängste, klitzekleine, unauffällige, noch vorhanden AN Verhaltensweisen oder unerkannte und unbearbeitete Traumata und zusätzliche mentale oder auch körperliche Erkrankungen einen Rückfall begünstigen. Manchmal sogar Jahrzehnte später.

Während der Genesung sind Rückschritte normal. Die Essstörung (AN) ist oft noch präsent; neuronale Wege, die durch tausende Vermeidungshandlungen etabliert wurden, führen zu automatisierten Verhaltensweisen: Man neigt dazu, wieder die Verhaltensmuster der Essstörung zu übernehmen, insbesondere wenn die Energie und Aufmerksamkeit anderweitig beansprucht sind. Rückschritte können sich in Form von Gewichtsabnahme, Verstärkung des Bewegungsverhaltens, Rückzug oder auch allein in den Gedanken und verstärkten generalisierten Ängsten oder Zwängen zeigen. Ein Rückschritt kann meist noch rechtzeitig erkannt und abgefangen werden. Wenn dies nicht gelingt, spricht man von einem Rückfall. Ein Rückfall ist ab einem bestimmten Punkt in der Regel eine bewusste Entscheidung, da die Betroffenen, auch jüngere, spüren, wenn sie in alte Muster zurückfallen. Sie lassen den Rückfall zu, weil dieser Zustand vertraut ist, die Funktion der Krankheit noch nicht durch gesunde Alternativen ersetzt werden konnte und/oder die Heilung nicht freiwillig geschieht, sondern unter Druck von außen. Heilung von AN kann man nicht erzwingen. Schmerzhaft, aber Fakt. Oft ist die Anziehungskraft der Essstörung auch einfach noch zu mächtig. Ein Rückfall bedeutet eine vollständige Rückkehr in die Essstörung mit all ihren Mustern und Konsequenzen der Erstmanifestation, mit dem Risiko einer Verfestigung der Erkrankung.

Rückfallprofilaxe: How- To

Der entscheidendste Aspekte bei der Heilung von AN und der Rückfallprofilaxe ist die Koedukation, das Wissen, um die Krankheit.

Informier Dich über Deine Erkrankung!

Du findest Infos vor allem auf englischsprachigen Seiten. Wir sind hierzulande leider nicht optimal aufgestellt, was das Wissen und die Behandlung von AN betrifft. Schau Dich um auf unserer EAT Seite und auf dem Blog dort. Wir haben versucht, alles, was wichtig ist, verständlich darzustellen und wo immer möglich auf Deutsch.

How To:

Ausreichende Nahrungsaufnahme:

Stelle sicher, dass du genügend Energie und Nährstoffe zu dir nimmst, um ein „gesundes“ Gewicht zu halten und deinen Körper optimal zu versorgen. Lasse niemals das Frühstück aus und iss in der Früh Kohlenhydrate! Frühstück mit Carbs ist wichtig, um den Cortisolspiegel zu senken. Ein hoher Cortisolspiegel triggert AN Verhalten.

Mahlzeitenstruktur:

Nimm fünf bis sechs Mahlzeiten zu Dir. Drei Hauptmahlzeiten, drei Snacks.

Wenn Du im Laufe der Zeit drei wirklich energiehaltige Hauptmahlzeiten essen kannst, die nicht mehr als 5- 6 Stunden auseinanderliegen, können auch drei Mahlzeiten und ein Snack reichen. Vermeide es aber unbedingt, tagsüber mehr als sechs Stunden nüchtern zu sein. Besser nur fünf. Hab immer einen Snack in der Tasche. Du wirst merken, je länger die Zeitspanne zwischen den Mahlzeiten ist, umso schwerer wird das nächste Essen Dir fallen. Oder Du bekommst einen Fressanfall. Nimm das dann als Warnsignal.

Wenn Du zwischen den Mahlzeiten und Snacks hungrig bist oder auf etwas Lust hast (mentaler Hunger zählt!), dann iss das! Mehr ist immer erlaubt.

Keine vegane Ernährung:

Wichtig, wichtiger, am wichtigsten.

Vegane Ernährung ist zum einen die restriktivste Ernährungsform, die wir kennen. Selbst wenn kein absoluter Nährstoffmangel besteht, merkt das Gehirn das. Es fehlen alle tierischen Lebensmittel.

Your brain is not stupid, Leute!

Keine Periode und vegan? Nochmal: Your brain is not stupid.

Zum anderen brauchen wir bei einer AN tierische Produkte. Proteine aus Pflanzen sind nicht optimal bioverfügbar für einen Menschen mit der „Biologie einer AN“. Dasselbe gilt für tierische Fette. Tierschutz ist gut und schön, aber die eigene Gesundheit geht vor. Wenn die AN leise ist, weil Ihr Euch erzählt, vegan leben zu müssen, wegen der Tiere, dann ist die AN nicht leise, weil Ihr gesund seid. Sie hält die Klappe, weil sie bekommt was sie will: absolute Restriktion. Bewusst oder unbewusst ist egal an dieser Stelle. Vegane Recovery ist nicht valide. Ja, Kliniken bieten das an, aber nicht, weil sie davon überzeugt sind, dass vegan so super ist für Euch, sondern weil es zu viele AN gibt, die sich dieser Ernährungsform verschrieben haben. Und die bleiben alle weg, wenn es kein veganes Essen gibt in Kliniken. Finanzieller Verlust ist nicht gewollt. Woher ich das weiß: Ich habe mal einen Insider gefragt. Und ja, online Coaches behaupten, vegan gesund geworden zu sein.

Friendly reminder: Es ist wohl deren Definition von gesund und möglicherweise reicht ihnen das. Und sie haben garantiert Kund:innen.

Geht es Ihnen auch wirklich gut? Ist körperliche alles im Lot? Kriegen sie Panik bei dem Gedanken, nicht mehr vegan sein zu können? Liebe Alle, die Ihr das lest: Verarscht Euch nicht selbst!

Regelmäßige ärztliche Untersuchungen:

Das ist ein tricky one. Unsere Ärzte verstehen oft viel zu wenig von AN, um hier hilfreich sein zu können. Dennoch, ein paar Checks müssen sein. Dazu gehört die Knochendichtemessung, ein Ultraschall der Nieren und Urinchecks, eine umfassende Herzuntersuchung und regelmäßig mal ein EKG, und das eine oder andere Blutbild, je nachdem, wie die Werte aussehen. Wenn die Periode nicht wieder kommt, dann auch ein sogenanntes Hypophysen- Profil. Die Hypophyse ist die Hirnanhangdrüse. Dort werden die meisten wichtigen Hormone gebildet und dieser Bereich des Hirns ist von AN massiv betroffen. Diese Untersuchung machen Endokrinologen. Wenn die Geschlechtshormone dann niedrig sind, ist ein Besuch beim Gyn. angesagt. Du kannst mit naturidentischen Hormonen gegen die durch Östrogenmangel drohende Osteoporose angehen. Bitte keinesfalls die Pille nehmen. Wir wollen ja, dass die Periode wieder kommt, nicht, dass sie weg bleibt!

Bewältigungsstrategien für Stress:

Stress aller Art ist der massivste Rückfalltrigger. Zum einen, weil das Cortisol wohl bei AN eine große Rolle spielt und das ist bei Stress zu hoch. Zum anderen, weil die AN lange Zeit bewusst und unbewusst bei der Stressbewältigung geholfen hat. Nicht essen macht ruhiger, wenn man diese Veranlagung hat. Das ist super gefährlich und muss Dir immer bewusst sein. Niemals Mahlzeiten ausfallen lassen, nur weil Stress den Appetit reduziert.

Entwickle gesunde Bewältigungsstrategien, um mit Stress umzugehen. Hier etwas zu empfehlen, ist schwierig, weil jeder von etwas anderem profitiert. Die einen mögen Meditation, die anderen nicht, oder können nicht. (Trauma z.B. kann es verhindern, dass man meditieren kann. Das ruhige dasitzen fühlt sich dann bedrohlich an.) Manche sind sehr kreativ und malen, oder schreiben. Tagebuch schreiben liebt der eine, der andere nicht. Also, sucht Euch etwas, dass Euch ausgleicht. Aber bitte nicht Sport im Sinne von „rennen wie verrückt“.

Bewegungsverhalten:

Sport und AN sind meist untrennbar verbunden. Wer heilen will oder geheilt bleiben will, muss hier aufpassen, um diese Verbindung zu lösen und nicht wieder aufleben zu lassen. Hör auf Deine Gedanken und Gefühle, wenn Du Sport machst. Hinterfrag immer Dein Warum. Wenn Sport dazu dient, die Angst vor Essen und Gewicht im Griff zu haben, ist das Warum AN getriggert. Und damit kein Ausgleich zu Stress, sondern das Gegenteil. Finde etwas, das Spaß macht, am besten auch noch eine soziale Komponente hat und nicht auslaugt.

Urlaubsplanung:

Plane deine Urlaube so, dass du weiterhin Zugang zu ausreichender und ausgewogener Ernährung hast und Deine Mahlzeitenstruktur einhalten kannst. Das muss nicht auf die Minute sein. Im Gegenteil, Urlaube sind gut geeignet, um Flexibilität zu trainieren.

Vermeide Situationen, die zu Essstörungsauslösern führen könnten, wie Alkohol, sozialer Druck, und ein- bis zwei Jahre nach der Heilung auch Reisen in Länder mit hoher Gefahr von Magen- Darmerkrankungen und dem damit verbundenen Energiedefizit. Das ist grundsätzlich ein Problem, doch ein- bis zwei Jahre nach Heilung ist man am meisten rückfallgefährdet.

Pack Dich aber nicht in Watte. Man wird nicht gesund, wenn man Bikini und Strand vermeidet, sondern wenn man sich exponiert.

Gewichtskontrolle:

Schwierig. Bitte vermeide die Waage. Auch bei Ärzten. Niemand muss da drauf, außer vor OPs, wenn schwanger, oder zur Einstellung bestimmter Medikamente. Und das geht blind gewogen genauso gut. Exposition ist hier nicht das Mittel der Wahl. Die Waage ist für AN wie der Alkohol für ehemalige Alkoholiker, und da kommt auch kein Mensch drauf, zu exponieren: Einmal wieder auf dem Teil draufgestanden und das Gewicht gesehen, schon bist Du angefixt und die AN wird lauter. Und aus einmal wird x mal, so schnell kannst Du gar nicht schauen. Diese Erfahrung, dass Wiegen ein Problem ist, machen die Allermeisten, auch noch lange nach der Heilung. Du weißt, dass ich recht habe! Das Gewicht zu kennen, macht einfach immer etwas mit einem. Wenn Du niemanden hast, der Dich blind wiegt und ein Zeichen gibt, ob die Richtung stimmt, dann verlass Dich auf Dein Gefühl. Mal ehrlich: Jede AN-Patientin weiß, wenn sie abnimmt, auch ohne Waage. Erstens spürt man es an den Klamotten, zweitens an den Gedanken, drittens freut man sich, wenn man mehr Platz in der Hose hat. Oder es macht Angst, je nach Status der Heilung. Meistens irgendwie beides, auch wenn die Freude über Gewichtsabnahme nach der Heilung sehr, sehr leise sein kann, nur ein mini !Gefühlchen!, dem man kein Gehör mehr schenken muss. Wenn du abgenommen hast, sieh zu, dass du schnell wieder mehr isst. Vergiss nicht: Hauptauslöser der AN ist das Energiedefizit. Und das hat man, wenn man abnimmt. Ach so, und nein, du musst nicht wissen, ob du zugenommen hast. Das ist nämlich kein Problem, wenn man eine AN dauerhaft weg haben will.

Gesellschaftliche Erwartungen:

Gesellschaftliche Normen, Versagensangst (=Perfektionismus) oder sozialer Druck der Peergroup können dazu führen, dass Du Dein Essverhalten wieder kontrollierst oder veränderst, um bestimmten Erwartungen zu entsprechen. Und die Stimme der AN ist u.a. die Stimme der Gesellschaft. Mach Dir das bewusst. Liegt Dein Ziel darin, dem zu entsprechen, was die Gesellschaft bzw. andere vorgeben, oder willst Du ein selbständig denkender und handelnder Menschen sein, selbstverantwortlich und selbstbewusst?

Traumatische Ereignisse:

Wir wissen heute, dass Trauma einen wesentlichen Grundstein legt für die Entstehung einer AN. Traumatische Erfahrungen wie Missbrauch, Vernachlässigung, Mobbing oder Verluste können durch eine AN so unterdrückt werden, dass diese Erfahrungen für Betroffene nicht spürbar sind und/oder erträglicher werden. Besser macht das nichts, aber man muss anerkennen, dass AN immer eine Funktion hat, und bei Trauma kann es die sein, es aushaltbar zu machen. Wenn Du mit der Heilung Deiner AN nicht weiter kommst und/oder weißt, dass Du ein Trauma hast, dann hol Dir Hilfe von einem erfahrenen Traumspezialisten. Ich hoffe, Du findest einen. Unbearbeitete und unerkannte Traumata lassen die AN schwer dauerhaft heilen.

Soziales:

AN macht einsam. Und Heilung braucht Menschen. Geh wieder raus, such Dir Leute, die zu Dir passen. Geh z.B. in eine Selbsthilfegruppe, die sind weit besser als ihr Ruf, und oft besser als Therapeuten, die keine Ahnung haben von AN.

Sprich offen über deine AN, aber achte darauf, mit wem. Nicht jeder versteht AN, im Gegenteil. Such Dir gut aus, wem Du Dich öffnest und achte immer auf Deine Grenzen.

Selbstfürsorge:

Nimm dir bewusst Zeit für dich selbst, um dich zu entspannen und etwas zu tun, das dir Freude bereitet. Ja, Entspannen ist harte Arbeit, wenn man die Biologie einer AN hat plus die Glaubenssätze, dass man immer produktiv sein muss. Auch hier mache ich keine Vorschläge, denn Entspannung bedeutet für jeden etwas anderes. 

Was ist noch wichtig:

Ein gleichmäßiger Schlafrhythmus, Freunde, und eine sinnstiftende Beschäftigung.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass du lebenslang auf verschiedene Bereiche wie Ernährung, Gesundheitsvorsorge, Stressbewältigung und Selbstfürsorge achtest, um dauerhaft gesund zu werden und zu bleiben. Deine Genesung und dein Wohlbefinden sollten stets im Mittelpunkt stehen. Resilienz gegenüber gesellschaftlichen Normen bezüglich Aussehen und Ernährung ist unerlässlich. Es ist wichtig, sich von den Regeln anderer zu lösen und stattdessen das umzusetzen, was du auf deinem Weg der Heilung gelernt hast. Wenn du konsequent bleibst und nicht vom Pfad abweichst, kannst du ein Leben ohne AN führen.

Und wenn sich die Stimme ab und zu meldet?

Normal! Das heißt nicht, dass Du nicht geheilt bist. Die Worte in Deinem Kopf sind Überbleibsel der AN in Deinem Gehirn, die automatisch reagieren auf irgendwelche Auslöser. Sie können ein Zeichen sein, mal genauer hinzuschauen, aber tue niemals, was sie sagen!