Trigger und körperliche Gefahren einer Ausnahmesituation

Corona 2020 –  Erfahrungen und Antworten einer Spezialistin auf med. Fragen

 

Gehören Menschen mit Essstörungen zur Corona-Risikogruppe?

Antwort vorweg: leider ja.

Corona ist immer noch da und das macht ES(S) nicht leichter. Ich habe diesen Artikel ein wenig überarbeitet und ergänzt, doch alles, was Dr. Gaudiani, Internistin und Spezialistin für Essstörungen dazu zu sagen hatte, gilt natürlich weiterhin. Sie äußert sich zu der Frage, ob Menschen mit einer Essstörung ein höheres Risiko für Ansteckung und schwerere Verläufe einer Corona Infektion haben können. Dieses Thema betrifft auch viele Autisten, die sich aufgrund  Ihres Autismus einseitig und eingeschränkt ernähren (ARFID) und damit unter diesen Personenkreis fallen.

Die wenigsten Ärzte sind auf Essstörungen spezialisiert. Das führt schon im Normalfall dazu, dass diese Problematik oft nicht erkannt wird und Symptome, ohne bösen Willen, falsch zugeordnet werden. Kommt es zu einer Infektion, reagieren die Körper essgestörter Menschen anders als die Gesunder. Werden Warnsignale sowohl von den Betroffenen als auch von deren Ärzten nicht erkannt, kann dies zu einer nicht zu unterschätzenden Gefahr werden, egal ob Corona oder ein anders gesundheitliches Problem vorliegt.

Ich schätze die Meinung von Dr. Gaudiani sehr, möchte Euch an  Ihren Ausführungen teilhaben lassen und sie durch meine Kenntnisse ergänzen. Ich würde Euch lieber ein paar beruhigende Worte schicken. Das wird mit diesem Thema jedoch nicht gelingen. Umso wichtiger ist es, dass Ihr, wenn Ihr von Essstörungen betroffen seid, wachsam und achtsam mit Euch selbst umgeht, die Gefahr richtig einschätzt und Euch vor Ansteckung in Acht nehmt.

Hierfür ist Wissen Macht.

Zunächst muss man sagen, man kennt das Virus auch nach fast einem Jahr noch nicht gut genug, um genau zu verstehen, warum manche, auch Jüngere, schwerere Verläufe haben und andere kaum etwas spüren. Unser Immunsystem spielt dabei definitiv die Hauptrolle. Je besser sich ein Körper wehren kann, umso geringer sind die Ausmaße einer Infektion.
Und genau das ist ein großes Problem bei Personen mit einer Essstörung: Menschen, die nicht ausreichend ernährt sind, haben in der Regel auch kein besonders leistungsfähiges Abwehrsystem.

  1. Mögliche Auswirkungen auf von Anorexie und ARFID Betroffene, die untergewichtig sind:

Für Euch können sich vor allem folgende Komplikationen ergeben:

Corona Infektionen gehen in der Regel mit Husten einher. Husten ist ein wichtiger Abwehrmechanismus, der die Viren aus den Atemwegen transportiert. Stark untergewichtige Menschen haben eine schwache Muskulatur, so dass die Fähigkeit zu husten eingeschränkt sein kann. Viren bleiben länger in deren Lungen und können mehr Schaden anrichten. Das kann dazu führen, dass diese Personen schneller und schwerer krank werden und sogar beatmet werden müssen.

Liegt bereits Osteoporose vor, also ausgedünnte Knochen, können bei starkem Husten auch Rippen brechen, die wiederum die schon geschwächte Lunge verletzen können.

Weiterhin kann es sein, dass die Temperatur nicht ansteigt, weil ein Organismus im Hungerzustand die Energie spart, die er aufwenden müsste, um Fieber zu erzeugen. Doch auch Fieber ist sehr hilfreich, um Keime abzutöten.

Fehlen wichtige Symptome einer Infektion, kommen weder Betroffene noch Ärzte auf die Idee, dass es sich bei scheinbar nur leichten Beschwerden um eine durchaus ernst zu nehmende Corona Infektion handeln könnte.

Dazu kommt: Schwere Infektionen gehen an die Substanz. Man kann möglicherweise für eine Weile nicht mehr ausreichend essen. Das setzt einen Körper, der sich ohnehin im Hungermodus befindet, noch weiter unter Stress. Das kann laut Dr. Gaudiani in schweren Fällen tatsächlich tödlich enden, vor allem durch Herzversagen und/oder Unterzucker.

Selbst wenn Krankenhäuser ausreichend Kapazitäten haben oder hätten, wissen die wenigsten Ärzte über die Besonderheiten der Physiologie der Anorexie Bescheid. Und gerade Anorexie Patienten verheimlichen Ihre Erkrankung leider auch im absoluten Notfall häufig. Wenn es nun notwendig werden sollte, dass Patienten mit einer restriktiven Essstörung aufgrund von Corona über die Sonde ernährt werden müssen, kann es leicht zu einem Refeeding Problem kommen, da Ihr Körper die plötzlich sehr hohe Anzahl an Kalorien nicht toleriert. Das allein ist schon eine sehr ernstzunehmende Gefahr.

Für Patienten mit Anorexie und normalem Körpergewicht (Atypische Anorexie), gilt dasselbe. Deren Gewicht kann deshalb normal sein, weil der Stoffwechsel schon sehr erniedrigt ist und eine geringe Kalorienzufuhr nicht mehr zu einer weiteren Abnahme oder sogar zu Gewichtszunahme führen kann. In diesem Fall bedeutet Normalgewicht nicht gleich ausreichend ernährt! Nur, diese Menschen werden noch seltener als kritische Risikopatienten erkannt, denn man sieht es ja nicht. Aber auch bei ihnen sind die Organfunktionen und das Immunsystem meist eingeschränkt.

Nur ein Beispiel: Wenn eine Betroffene mit einem hungerbedingten Ruhepuls von 50 plötzlich einen eigentlich normalen Ruhewert von 80 hat, ist das für Unterernährte als zu schnell zu werten und nicht als normal. Ein hoher Puls kann ein Zeichen für eine Ansteckung sein.

Bulimie

Auch Bulimie wird von behandelnden Ärzten nicht sofort erkannt, wenn sich Betroffene nicht outen. Regelmäßiges Erbrechen bei Bulimie führt zu Dehydration. Der Elektrolythaushalt gerät aus dem Lot, vor allem Kalium, Magnesium und Phosphor fehlen. Das kann bei einer Covid Infektion zu einem Ausfall der Muskulatur führen, die das Husten unterstützt und auch zu Herzversagen.

Weiterhin kann es zu starken Wasseransammlungen kommen, vor allem wenn Fressanfälle und Erbrechen während der Infektion weitergehen. Wenn zu viel Wasser in der Lunge ist, ist das bei einer Covid Infektion lebensgefährlich.

Binge Eating

Ungenügende Kalorienzufuhr, also restriktives Essverhalten, ist ein wesentlicher Faktor, der Binge Eating provoziert und aufrechterhält. Binge- Eater kasteien sich oft den ganzen Tag oder auch mehrere Tage, um dann in einem Fressanfall zu enden, weil der Körper sein Recht einfordert. Der Artikel zum Setpoint gibt Einblicke in diesen Mechanismus. Somit sind Menschen mit BED auch meist ungenügend ernährt. Fressanfälle sind zusätzlicher Stress für den Körper.

Diejenigen, die aufgrund ihrer BED übergewichtig sind, haben nicht selten zusätzliche Erkrankungen, wie Diabetes oder Herz-Kreislauf-Probleme. Personen mit diesen Erkrankungen fallen unter die Covid Risikogruppe.

Dr. Gaudiani äußert sich sehr besorgt über die möglicherweise verkannte Gefahr der von Essstörungen Betroffenen während der Corona Krise:

„Anyone with an eating disorder and their family has experienced the profound error that medical providers mistakenly make in thinking they can look at someone’s body and determine how healthy they are. I worry profoundly that the population of individuals with eating disorders will be mis-triaged based on body appearance in the moment of truth, no matter where they fall on the weight spectrum.“

Neben den körperlichen Problemen ist dieser inzwischen schon viel zu lange andauernde Ausnahmezustand ein Trigger für jeden, der unter Essstörungen leidet oder irgendwann in seinem Leben davon betroffen war. Selten war die Rückfallquote so hoch wie jetzt.

Selbst dann, wenn man nicht besonders anfällig für Angstmache oder für unterschwellige Botschaften ist, wirkt die mitunter krasse Sprache unserer Politiker bei jedem. Worte, wie dass Angehörige möglicherweise genau an Heiligabend sterben werden, wenn wir jetzt nicht in den harten Lockdown gehen, hinterlassen selbst bei denen Spuren, die von derartigen Sprüchen sonst nicht zu beeindrucken sind.

Essstörungen haben nicht nur genetische Komponenten, sie haben vor allem Funktionen. Alle Betroffenen wissen, wie gut man sich innerlich betäuben und äußerlich abschotten kann, wenn man nur der Stimme der ES folgt. Hungern, Fressen, Sport bis zur totalen Erschöpfung uvm.: Es wirkt. Darauf ist verlass. Doch was passiert, wenn nun auch noch diese Kompensationsmechanismen bedroht werden: Alles wird nur noch schlimmer.

Die Leute horten Lebensmittel (und Klopapier). Völlig gedankenlos scheint ein Lemming dem anderen zu folgen, als stünden wir kurz vor dem Exodus. Essen horten kann schon ohne Corona ein Symptom einer Essstörung sein, und wer noch nicht darauf zurückgegriffen hat, tut es vielleicht spätestens jetzt.
Ich glaube, jeder Binge-Eater, Bulimiker und Mensch mit Anorexie Binge- Purge weiß, wie schädlich es ist, haufenweise Lebensmittel im Haus zu haben. Das kann jeden noch so guten Vorsatz vernichten, Fressanfälle zu vermeiden. Anorexiker dagegen haben eher einen Grund, nichts einzukaufen und mehr für die anderen zu lassen; nicht aus Altruismus, sondern als Grund, dem beruhigenden Hunger das Feld zu überlassen. Und wer jetzt meint, sich besonders „gesund“ ernähren zu müssen zwecks dem Immunbooster und vielleicht auch noch perfektionistische Persönlichkeitsmerkmale hat, der ist dank Corona besonders gefährdet, die zweifelhafte Bekanntschaft mit Orthorexie zu machen.

Damit nicht genug, ist der größte Schreck der meisten vermutlich die Schließung der Fitnessstudios, noch dazu auf unbestimmte Zeit. Sport kann ein hervorragendes Mittel sein, Spannungszustände abzubauen. Aber das ist doch für die meisten ESSIS nur ein Vorwand, nicht wahr? Tatsächlich stehen nämlich Kalorien abarbeiten und am Bodyimage feilen im Vordergrund. Kein Sport bedeutet für viele regelrechte Panikattacken, wenn auch nur der Gedanke aufkommt, der Zeiger der Waage könnte sich nach rechts bewegen.
Und was tut jemand mit einer Essstörung, der Energie nicht in Bewegung umwandeln kann und Angst hat, deshalb zu explodieren? Er isst noch weniger oder noch mehr und greift dann auf andere, ziemlich ungesunde Gegenmaßnahmen zurück.
Außerdem: Es sieht ja keiner. Essstörungen werden in Isolation zu besten Freunden und sie „danken“ Corona für dieses Geschenk. Social Distancing, besser könnte es nicht sein. Ihr Mensch gehört ihnen nun ganz allein, sie haben vollen Durchgriff.

Doch es könnte auch anders gehen. Corona könnte auch eine Chance sein, dem Teufel auf Eurer Schulter zu beweisen, dass Ihr stärker seid.

Jetzt wäre eine prima Gelegenheit, daran zu arbeite, bestimmte Verknüpfungen in Euren Hirnen zu lösen, wie zum Beispiel die zwischen Essen und Sport oder die zwischen Bestrafen und nicht Essen, sofern Ihr solche Muster habt.

Autisten haben vermutlich wenig Probleme, nicht unter Leute gehen zu dürfen 😉 Aber auch wir brauchen unsere gewohnten Abläufe und unsere vertrauten Sozialkontakte. Fallen die weg, drohen Gefühle von Einsamkeit und Depressionen.

Wenn Ihr in einem Bereich mit Ausgangssperre wohnt (oder Kontakte total meiden müsst oder wollt), nutzt die Möglichkeiten von Skype, Zoom, Whatsapp- Videochat o.ä. Verabredet Euch online, das geht sogar in Gruppen. Macht regelmäßig eine bestimmte Zeit aus, zu der Ihr Euch im virtuellen Raum trefft und trinkt einen Kaffee zusammen.

Geht in eine Facebookgruppe zu Eurem Thema, dort seid ihr nie allein.

Redet mit den Nachbarn über die Balkone, nutzt die Gelegenheit, Euch besser kennen zu lernen.

Macht Euch einen Plan, der auch ein paar Routinen enthält. Routinen können gegen Angst helfen. Aber zu diesen Routinen sollte nicht gehören, den ganzen Tag Nachrichten über Covid19 anzuschauen oder auf Twitter ständig darüber zu chatten. Das macht bewusst und unbewusst negative Stimmung und die wiederum mag unser Immunsystem gar nicht, die ES aber sehr wohl. Schaut lieber den einen oder anderen lustigen Film, beschäftigt Euch mit Euren Interessen oder probiert etwas Neues aus, für das Ihr nicht aus dem Haus gehen müsst. Gar nicht so einfach, aber wer suchte, der findet.

Ihr dürft trotz Ausgangsbeschränkungen raus! Geht spazieren, vielleicht sogar zu zweit, oder fahrt eine kleine Runde mit dem Rad. Diejenigen, die Sport machen dürfen und hier keine Zwänge haben: Joggen im Freien ist eh gesünder. Oder eine Wanderung.

Lasst die ES nicht gewinnen. Das ist Corona nicht wert.

Und bitte, wenn Euch das Virus erwischt, lasst die Heimlichtuerei. Eine Essstörung ist eine Erkrankung wie jede andere auch. Verheimlicht das Problem nicht, weil Ihr Euch schämt und auch nicht, weil Ihr Angst habt, Eure Ärzte könnten Euch zwingen, zu essen. Verheimlichen kann Euch immens schaden, wenn Ihr Euch mit Covid angesteckt haben solltet. Nutzt diese erzwungene Ruhezeit für mehr Selbstfürsorge und macht Euch bewusst, dass auch Ihr ein schönes und gesundes Leben „verdient“ habt, ohne Essstörung und ohne Corona.