Warum Hungern Bulimie triggert

 

Laut Recherche ist Bulimie zwar eine der häufigsten Essstörungen, gleichzeitig ist diese Variante jedoch am wenigsten erforscht.

Man geht davon aus, dass ca. 2–3 % der Bevölkerung eine klinisch relevante Bulimie entwickeln. Die Dunkelziffer derjenigen, die sich nicht in Behandlung begeben, wird auf ca. 3-5 % geschätzt (ca. 0,2 % Männer).

Anorexie betrifft ca. 1 % der Bevölkerung (ca. 0,3 % Männer), wobei auch hier die Dunkelziffer um einiges höher sein wird, da bei der Schätzung lediglich diejenigen erfasst werden, die in Kliniken oder speziellen Zentren vorstellig werden und den Kriterien des DSM entsprechen.

Das Alter bei Erstdiagnose liegt bei fast allen Essstörungen in der Pubertät und Adoleszenz.

Wie wir heute wissen, entsprechen die Beschreibungen von Essstörungen im DSM und in der ICD nicht mehr ganz dem aktuellen Stand der Wissenschaft.

 Kurz zusammengefasst beschreibt das DSM 5 Bulimie wie folgt:

Bulimia nervosa ist gekennzeichnet durch wiederholtes Essen von weit überdurchschnittlichen Mengen an Lebensmitteln innerhalb von wenigen Stunden (=Binges). Die Nahrungsaufnahme kann in diesen Phasen weder in der Menge, noch in dem, was gegessen wird, kontrolliert werden. Essen wird wie ein Rauschzustand erlebt.

Nachdem auch Bulimie von der Angst vor Gewichtszunahme und von Körperschemastörungen begleitet wird, erfolgen nach den Fressanfällen entsprechende Gegenmaßnahmen.

Dabei wird unterschieden zwischen dem Purge Type und dem non Purge Type.

 Zum Purging Typ gehören diejenigen, die nach den Fressanfällen erbrechen und/oder große Mengen an Abführmitteln einnehmen.

Der Non- Purging Typ erbricht nicht, nimmt keine Abführmittel, treibt aber exzessiv Sport und/oder fastet tagelang, um die aufgenommenen Kalorien wieder loszuwerden.

Das Verhalten wird dann als Bulimie eingestuft, wenn es über drei Monate lang ca. 2 x wöchentlich auftritt.

Ab und zu Mahlzeiten mittels Erbrechen oder Abführmitteln „rückgängig“ zu machen, wird als gestörtes Essverhalten bezeichnet und hat laut DSM noch keinen diagnostischen Wert, ist demgemäß also noch keine Bulimie.

!Es sollte aber besser niemand auf die Idee kommen, das zu tun, denn diese Verhalten ist oft der Einstieg in eine Erkrankung, die einen hohen Verlust an Gesundheit und Lebensqualität zur Folge hat!

Das DSM weist auch darauf hin, dass Bulimie nicht im Verlauf/ zusammen mit einer Anorexie vorkommt.

Wenn wir zurückschauen auf die ersten Erkenntnisse über Bulimie, fällt etwas Interessantes auf:

Bulimie wurde erstmals 1903 detailliert beschrieben von dem französischen Psychiater Pierre Janet (30.05. 1859-24. 02. 1947)

Er beobachtete bei einer seiner Patientinnen, der 22-jährigen Künstlerin Nadia, ein Verhalten, das an Anorexie erinnerte. Die junge Frau konnte ihren Körper nicht akzeptieren und hatte große Angst vor Gewichtszunahme. Sie wollte nicht so „fett“ werden, wie ihre Mutter. Sie wechselte zwischen Phasen des Hungerns und des Fressens. Nach Fressattacken hatte sie große Schuldgefühle und ergriff entsprechende Gegenmaßnahmen.

Der britische Psychiater Gerald Russell, der 1979 den Begriff „Bulimia nervosa“ prägte, bezeichnete diese Essstörung als Variante der Anorexie. Er stellte fest, „the majority of the patients had a previous history of true or cryptic anorexia nervosa.” Die Mehrheit der Patienten hatte eine Anorexie in der Vorgeschichte.

Erst später, als Essstörungen bekannter wurden, wurden Bulimie und Anorexie getrennt und unabhängig voneinander beschrieben.

Hatten die beiden Psychiater vielleicht schon damals recht, als sie eine Verbindung herstellten zwischen Hungern und Bulimie? Hatten sie verstanden, was die „Minnesota Starvation Study“ letztendlich beweist, nämlich dass die biologische Antwort auf Fasten, auf Nahrungs-(mittel-)verzicht, regelrecht zu Heißhunger führen muss?

Nach allem was wir heute wissen, ja.

Die biologische Grundlage fast aller Essstörungen (Ausnahme ARFID) ist eine Phase vorangegangener Restriktionen.

Einschränkungen in der Nahrungsaufnahme- und Auswahl können zu Essstörungen führen und halten alle akuten Essstörungen aufrecht.

 Reduzierte Kalorienaufnahme unterhalb des Bedarfes und/oder selbst auferlegte Ernährungsregeln, die wichtige Lebensmittelgruppen ausschließen und Essen in gesund, ungesund, erlaubt und verboten einteilen, führen zu körperlichen, psychischen und mentalen (das Denken betreffenden) Veränderungen, die Essanfälle zur Folge haben können.

Die Wahrscheinlichkeit für Fressattacken ist umso größer, je schwerwiegender der Nährstoffmangel wird und je strikter die selbstauferlegten Regeln eingehalten werden.

“Actual physical starvation or deprivation, or the threat of deprivation is one major component that maintains this dangerous cycle. […] Dieting and food restriction often naturally leads to binge or emotional overeating. From an evolutionary standpoint, it makes sense that starvation or the threat of future starvation would trigger us instinctively to binge eat.”

Mit diesen Essanfällen holt sich der Körper also in der Regel das, was fehlt oder was sich Betroffene verbieten, nämlich in der Regel Kohlenhydrate und Fette.

Trotz der gemeinsamen Grundlage, der Mangelernährung, unterscheiden sich Bulimie und Anorexie in diversen Punkten.

Patienten mit Bulimie sind in der Regel normal- bis übergewichtig, während Magersüchtige eher unter- oder normalgewichtig sind.

BulimikerInnen verschlingen pro Fressanfall oft mehr als 10 000 Kcal und es bleibt selten bei nur einem Anfall. Manche Patienten berichten von bis zu 20 Attacken pro Tag! Es ist unmöglich, die vollständige Menge an aufgenommenen Kalorien wieder zu erbrechen, denn der Verdauungsvorgang/ die Resorption von Kalorien setzt sehr schnell ein, insbesondere dann, wenn sich der Körper im Hungerstoffwechsel befindet.

Man geht davon aus, dass ca. 1/3 der Kalorienmenge, die pro Anfall aufgenommen wird, innerhalb kürzester Zeit vom Körper verwertet wird.
Das wären bei einer Kalorienaufnahme von ca. 6000 kcal pro Anfall ca. 2000 kcal., die im Körper verbleiben, also der Tagesbedarf einer Frau.

Auch Abführmittel führen nicht zu einer Gewichtsabnahme, lediglich zu einer niedrigeren Zahl auf der Waage, da viel Wasser verloren geht. Außerdem geht der schnellere Transport der Nahrung zu Lasten der Nährstoffaufnahme und wichtiger Elektrolyte.
Mittels Sport tausende von Kalorien loszuwerden, ist ebenfalls unmöglich.

Bulimie ist also keine Erkrankung, die zu drastischer Gewichtsabnahme führt.

Sowohl Anorexie als auch Bulimie weisen Veränderungen der Botenstoffe Serotonin, Dopamin, Ghrelin und Oxytocin auf. Aber während diese Besonderheiten bei Anorexie vermutlich dazu führen, dass Essen an sich Stressreaktionen auslöst, reagieren Patienten mit Bulimie genau gegensätzlich. Essen hat auf BulimikerInnen einen beruhigenden Effekt.

„[…] the decreased blood flow [in the precuneus] in bulimics suggests that the introduction of food shuts down self- critical thinking in bulimics and gives them something to focus on instead of the painful prospect of dealing with their own shortcomings.” (Science Daily, “Under stress, brains of bulimics respond differently to food”, 7/2017)

Genetische Studien weisen darauf hin, dass Patienten mit Bulimie eine Mutation in den GLP 1 Rezeptoren haben (Glucagon like Peptide). Diese sitzen auf einem Gen, das in der Bauchspeicheldrüse und im Gehirn eine kontrollierende Wirkung auf den Appetit hat. Diese genetische Beeinträchtigung könnte mit dafür verantwortlich sein, dass BulimikerInnen in der Lage sind, diese riesigen Mengen auf einmal zu essen. Anorexie PatientInnen haben dagegen offensichtlich die biologischen Voraussetzungen, über lange Zeit nahezu vollständig auf Nahrung zu verzichten.

Eine weitere interessante Erkenntnis ist, dass nicht nur Fressanfälle Emotionen vorübergehend regulieren können, sondern dass das Erbrechen nach dem Fressanfall auch physiologisch beruhigende Reaktionen auslöst. Das ist ein Effekt, der den Teufelskreis der Erkrankung zusätzlich aufrechterhält.

„Physical effects of vomiting include stimulated respiration and production of tears, which in turn relieve physical and emotional stress and induce a sense of well-being.” (Mutilating the Body: Identity in Blood and Ink, Kim Hewitt)

Mit Beruhigung ist in diesem Zusammenhang nicht nur die weniger spürbare Angst vor Gewichtszunahme gemeint, sondern die generelle Reduktion von Stress.

Manche Bulimie Patienten durchlaufen deshalb Phasen, in denen sie extra- Fressanfälle produzieren, damit sich das Erbrechen danach „lohnt“. Selbstinduziertes, also selbst herbeigeführtes Erbrechen als Beruhigungsmaßnahme wird auch von manchen Borderline- Patienten und einigen Autisten beschrieben.

AnorektikerInnen dagegen berichten, dass sie Erbrechen eher als Bestrafungsmaßnahme dafür einsetzen, dass sie gegessen haben und um eine mögliche Gewichtszunahme zu vermeiden.

Ähnlich wie bei Anorexie ist auch bei Bulimie inzwischen klar, dass die Erkrankung bio-psycho-soziokulturell verankert und ebenso erblich bedingt ist.

 Auch für Bulimie gilt, Genetik allein führt nicht zur Erkrankung, genauso wenig wie Risikofaktoren ohne genetische Prädisposition eine Bulimie auslösen.

Es braucht also auch bei Bulimie Risikofaktoren, die die genetische Antwort provozieren.

Risikofaktoren sind auch hier:

  • Kulturelle Ideale und der entsprechende Druck, wie Frauen und Männer auszusehen haben und was gesunde Ernährung sein soll
  • Familiäre Belastungen aller Art, Vorgaben von Essensregeln, Essen als Belohnungs- und Bestrafungsinstrument und/oder Eltern, die die Körper ihrer Kinder bewerten
  • Persönlichkeitseigenschaften wie Selbstunsicherheit, Selbstablehnung, Launenhaftigkeit und vor allem Schwierigkeiten, Impulse zu kontrollieren (im Gegensatz zu Patienten mit Anorexie, die oft sehr kontrolliert und perfektionistisch sind)

So, wie alle Essstörungen führt Bulimie neben Veränderungen an Gehirn und Psyche zu körperlichen Problematiken. Die Anzeichen von Bulimie sind zum Teil offensichtlicher als die von Anorexie:

Besonders auffällig ist dasRussell Zeichen“, benannt nach oben genanntem Psychiater. Durch das selbst herbeigeführte Erbrechen kommen die Finger und die Handrücken mit den Zähnen in Kontakt und es entstehen Narben, die vor allem in akuten Phasen, deutlich sichtbar sind.

Bei vielen Patientinnen sind die Speicheldrüsen geschwollen, was die Backen anschwellen lässt.

Die Mundwinkel sind eingerissen, die Nägel brüchig und die Haare ausgedünnt vom Nährstoffmangel.

Betroffene sind oft heiser, weil die Magensäure die Stimmbänder verätzt und den Hals entzündet.

Die Zähne werden gelb, das Zahnfleisch ist entzündet und viele haben Mundgeruch.

Exzessives Fressen und Erbrechen kann zu Reflux von Magensäure, zu lebensgefährlichen Blutungen an der Speiseröhre und zu Rissen der Magenwand führen.

Daneben sind auch Osteoporose, Durchblutungsstörungen, Frieren, niedriger Puls und später manifeste Herzerkrankungen aufgrund von langanhaltendem Nährstoff- und Elektrolytmangel mindestens genauso häufig, wie bei Anorexie.

Weniger bekannte Anzeichen, die vor allem nahen Angehörigen und Freunden auffallen können, sind:

Große Mengen an Nahrungsergänzungsmitteln im Haushalt, ein Versuch, den Nährstoffmangel auszugleichen.

Ungezügeltes Essen, auch in Gesellschaft, oft mit nachfolgendem längerem Aufenthalt auf der Toilette.

Es riecht auffällig oft nach Lufterfrischer im Bad.

Aggression, wenn das Essverhalten (viel Essen) angesprochen wird.

Ständiges Beschäftigen mit Essen, Kochen etc. (ähnlich wie bei Anorexie).

Verschwinden von großen Mengen an Nahrungsmitteln aus der Küche.

Geschirr geht „verloren“.

Immense Mengen an Abfall, der oft irgendwo im eigenen Zimmer gehortet wird, bei Erwachsenen auch im Auto.

Andere dürfen das Zimmer nicht betreten.

Der Supermarkt wird ständig gewechselt.

Permanenter Geldmangel, der auch dazu führen kann, dass LM gestohlen werden.

 

Kann eine Anorexie in eine Bulimie übergehen?

So ganz eindeutig ist das nicht. Die unterschiedliche Genetik spricht eher dagegen. Vermutlich versucht der Körper bei einer Anorexie als Grunderkrankung irgendwann, den Kampf gegen den Nahrungsmangel zu gewinnen. Die Patienten haben dann im Laufe der Zeit zunehmend mehr Fressanfälle, die zu massiveren Gegenmaßnahmen führen können, um Gewichtszunahme zu vermeiden. Das ist allerdings keine Bulimie, sondern ein „sabotierter Überlebenstrieb“.

Leider passiert es nicht selten, dass bei mangelnder oder mangelhafter Aufklärung in der Behandlungsphase oder bei falscher Behandlung der oft ganz normale und absolut notwendig extreme Hunger (=extreme hunger),  als Übergang zum Binge-Eating und damit als Gefahr für die Entwicklung einer Bulimie fehlinterpretiert wird. Extremer Hunger ist kein Binge- Eating und führt nicht zur Bulimie, wenn die Betroffenen entsprechend professionell begleitet werden. Es ist sogar vielmehr so, dass dieser Zustand auch bei der Behandlung von Bulimie auftritt. Extremer Hunger ist ein Automatismus des Körpers, der eintritt, um Nährstoffe wieder aufzufüllen und geschädigtes Gewebe zu reparieren.

Diese Phase gehört fast zwingend zur Gesundung und darf nicht unterbunden werden. Dazu mehr demnächst in einem neuen Artikel.

Zusammenfassung:

Bulimie und Anorexie sind vererbbar. Die Genetik wirkt jedoch unterschiedlich (Hungern vs. Fressen).

Beide Erkrankungen brauchen Risikofaktoren als Auslöser. Das größte gemeinsame Risiko ist jeweils die Biologie des Hungerns, also die Reaktionen des Körpers auf einen Mangel an Energie und Nährstoffen.

Hungern vor Beginn der Erkrankung, Unterversorgung durch Erbrechen und stundenlanges Fasten, um die Fressanfälle zu kompensieren, halten die Bulimie aufrecht.

Die Persönlichkeitsmerkmale der Patienten mit Bulimie unterscheiden sich von denen mit Anorexie vor allem in der Impulskontrolle.

Die körperlichen und psychischen Folgen sind jeweils gravierend, jedoch nicht vollkommen identisch.

Die Behandlung von Bulimie ist leider ähnlich schwierig, wie die von Anorexie. Die Rückfallquote für beide Erkrankungen ist hoch, denn niemand kann leben, ohne zu essen. Und Essen ist der Stoff, aus dem Essstörungen sind.

Trotzdem können immer wieder Patienten geheilt werden, und andere erreichen zumindest eine wesentliche Verbesserung ihres körperlichen und psychischen Zustandes- und damit eine bessere Lebensqualität.

Mehr zu Behandlungsmöglichkeiten von Essstörungen lest ihr bald in den Folgeartikeln