Warum ARFID die häufigste Essstörung der Autisten ist

 

„Ich fand Uni so stressig, dass ich irgendwann nur noch zwei Dinge aß: Pasta und Erbsen. Es war nicht wegen Geld oder zu wenig Zeit. Alle dachten, es wäre Anorexie. Das ist es aber nicht. ARFID zu erklären ist total schwierig. Es ist wie eine mentale Blockade. Ich kann mich nicht einmal zwingen, mir ein Sandwich zu machen, obwohl es schneller ginge als Nudeln.“

 „Ich habe ARFID, aber keiner weiß, wie man das behandeln kann. Ich bin etwas übergewichtig, weil ich nur Schokolade, Popcorn, Crackers, Bagels und Pasta essen kann. Ich würde gerne gesünder essen, aber jedes Mal, wenn ich etwas anderes probiere, dauert es genau zwei Tage und ich esse wieder das, was ich immer esse. Es funktioniert einfach nicht. Es führt nur dazu, dass ich mich gestresst fühle, und das macht alles nur noch schlimmer.“

 „Es gibt Menschen, die leben, um zu essen und solche, die nur essen, um zu überleben.“

„Mitteilung an alle
die am Buffet fast verhungern, weil sie es nicht schaffen, sich trotz einer riesen Auswahl an Möglichkeiten ein Essen zusammen zu stellen,
an alle, die beschimpft, verlacht oder angestarrt werden, weil sie immer dasselbe essen oder immer zur selben Zeit, oder etwas, das absolut nicht zusammenpasst oder nur ein oder zwei Lebensmittel,
an alle, die Einladungen vermeiden wie der Teufel das Weihwasser, weil sie die Qual einer gemeinsamen Mahlzeit nicht auf sich nehmen wollen oder können oder weil sie die Gastgeber nicht beleidigen wollen, indem sie ablehnen oder ihre eigenes Essen mitbringen:
Wir sind trotzdem wertvoll. Wir sind keine Versager, nur, weil wir nicht so sind, wie die anderen und weil niemand versteht, dass sich Essen für uns genauso schlimm anfühlen kann, wie für andere ein Flugzeugabsturz.“

Das sind Zitate von Beiträgen Betroffener auf Tmblr.

Sie geben recht eindrücklich wieder, welchen Leidensdruck Menschen mit dieser „vermeidenden Essstörung“ haben können.

Auch ARFID ist eine bio-psycho-sozial bedingte Essstörung. ARFID ist weit mehr als heikles, wählerisches Essverhalten und genau wie alle anderen Essstörungen sucht sich das niemand aus. Keiner isst freiwillig so eingeschränkt. Und Betroffene können eben nicht „einfach mal essen“.

Avoidant (=vermeidend)

Restrictive (=eingeschränkt)

Food Intake (Nahrungsaufnahme)

Disorder (Störung)

ist vermeidendes Essverhalten, das jeder Betroffene anders erleben kann. Es zeigt sich vor allem in drei Varianten, die sich manchmal auch überschneiden können:

  • Es werden Nahrungsmittel vermieden, die eine bestimmte Konsistenz, einen bestimmten Geschmack oder Geruch haben.
  • Essen wird vermieden aufgrund einer ausgeprägten Angst vor körperlichen Reaktionen, wie Schmerzen, Erbrechen u.a. Meist ging dem eine Erkrankung voraus, wie z.B. ein Magen- Darm- Infekt.
  • Das Hungergefühl und/oder der Appetit fehlen. Essen ist reiner Überlebenszweck, denn es hat keine emotionale Komponente. Es führt nicht zu einem befriedigenden Gefühl oder schlimmer, es erzeugt Angst.

Die meisten Essstörungen sind gleichzeitig Angststörungen, und bei ARFID scheint der Faktor Angst eine besonders große Rolle zu spielen. Oft zeigt sich diese Angst als Phobie. Sie bezieht sich dann auf bestimmte Lebensmittel. Das Verhalten bei ARFID kann jedoch auch, meist unbewusst, eine Möglichkeit sein, Angst auslösende Situationen besser zu verkraften oder ganz zu umgehen.

Autisten sind vermutlich aufgrund ihrer Eigenschaften und der autismusbedingt andersartigen Wirkung der Neurotransmitter (Belohnungseffekte) häufiger als andere von ARFID betroffen. Die Foren sind voll von Beiträgen über Schwierigkeiten mit dem Essen. Essstörungen, vor allem selektives Essverhalten, sind ein großes Thema für alle Autisten jeden Alters und jeden Geschlechts.

Die Probleme mit der Nahrungsaufnahme beginnen meist im Kindesalter und wachsen sich nicht aus. Eltern autistischer Kinder verzweifeln oft, weil ihre Kleinen jedes Essen verweigern und vor ihren Augen zu verhungern drohen. Oder aber sie stellen fest, dass die Kinder scheinbar besonders gerne essen, weil sie immer die Ersten sind, die am Tisch sitzen. Tatsächlich sind für manche jungen Autisten Essenszeiten die einzig vorhersehbaren, strukturierten Ereignisse des Tages.

Ich selbst kann mich gut daran erinnern, dass die Mahlzeiten im Kindergarten oder auch das Essen bei Kindergeburtstagen die wenigen Momente waren, in denen ich mich halbwegs sicher fühlen konnte. Nur zu den Mahlzeiten hörte das Gewusel um mich herum auf. Alle saßen am Tisch und ich wusste ausnahmsweise mal, was von mir erwartet wurde. Das änderte sich schlagartig in der Pubertät.

Im jugendlichen Alter, wenn die Welt ein einziges Chaos zu sein scheint, suchen viele Autisten zunehmend Sicherheit in Ritualen, auch rund ums Essen. Wenn in der Schule gegessen werden muss, wenn der Unterricht zu unterschiedlichen Zeiten beginnt und endet, wenn der soziale Druck steigt, steigen auch Angst und Unsicherheit. (Autistische) Jugendliche schränken die Auswahl an Nahrungsmitteln ein, weil es das Gewohnte von zu Hause nicht gibt, und/oder es wird generell weniger gegessen, weil die coolen Freunde ein bestimmtes (dünnes) Aussehen haben, das mit sozialer Zugehörigkeit verbunden zu sein scheint. Wie schon erwähnt, kann nicht zu essen tatsächlich beruhigen, vermutlich aufgrund des dysfunktionalen Stressreaktions- und Belohnungssystems.

Für mich fühlt es sich oft so an, als würde mein Gehirn mich in bestimmten Momenten nicht essen lassen, obwohl ich eigentlich möchte. Manchmal weiß ich warum, oft aber auch nicht. Sobald ich gestresst bin, weil meine Umgebung laut ist, weil ich etwas Wichtiges fertig machen muss, weil ich einen Termin habe, der mich verunsichert usw., ist Essen das Letzte, woran ich denken kann. Um mich halbwegs vernünftig ernähren zu können, brauche ich vor allem Ruhe und eine überschaubare Umgebung oder die Uhrzeit, wenn ich alles andere nicht habe.

Es gibt aber auch die andere Variante: Ständig etwas im Mund zu haben, kann zum Stimming, zu einem Selbstberuhigungsmechanismus werden.

Für Autisten kommt hinzu, dass viele schwer zwischen mehreren Optionen wählen können.

Buffets zum Beispiel erschlagen mich. Sie sind für mich in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung, obwohl ich eigentlich an Buffets die größten Chancen hätte, etwas zu finden, dass ich essen könnte.

Manche Betroffene haben von klein auf kein Hungergefühl und keinen Appetit, bei anderen entwickelt sich dieses Problem infolge des oft jahrzehntelang eingeschränkten Essens und des Dauerstresses, den Essen für sie bedeutet. Man kann Essen absolut nicht vermeiden, im Gegensatz zu anderen Stressfaktoren. Permanent damit konfrontiert zu sein, immer irgendwie unter Beobachtung zu sein, weil man halt auffällt oder weil sich andere sorgen, und selten richtig verstanden zu werden, führt zu einem Stresskreislauf, der die Problematik aufrechterhält.

Auch ARFID erkennt man nicht am Aussehen. Das Gewicht kann normal sein, im unteren oder oberen Bereich liegen oder auch schwanken.
ARFID bezieht sich zumindest anfangs auf das Essen an sich, nicht auf Figur und Gewicht. Essstörungen können sich jedoch überschneiden.
ARFID und Anorexie haben vermutlich die meisten Parallelen und können ineinander übergehen. Bei genetischer Prädisposition kann das eingeschränkte, vermeidende Essverhalten in Kombination mit Gewichtsabnahme eine Anorexie auslösen. Die Diagnose lautet dann meist ARFID Plus. Der Unterschied zu Anorexie als primärer Diagnose besteht vor allem darin, dass das Körperbild nicht gestört ist und keine Tendenz vorhanden ist, kalorienarme Lebensmittel zu wählen.

 „ARFID “Plus”: Individuals with avoidant, aversive, or restrictive types of ARFID presentations who begin to develop features of anorexia nervosa, including concerns about body weight and size, fear of weight gain, negativity about fatness, negative body image without body image distortion and preference for less calorically-dense foods.“

 Es kommt nicht selten vor, dass vor allem dünne Menschen, die von ARFID betroffen sind, fälschlicherweise mit Anorexie diagnostiziert und entsprechend unzureichend behandelt werden. Das kann die Erkrankung verschlimmern, denn kaum etwas stresst vor allem uns Autisten mehr als das Setting in Anorexie Therapien. Diese Bedingungen machen unser Essverhalten nicht besser, sondern eher schlimmer.

Körperliche Folgen von ARFID sind dieselben, wie bei anderen Essstörungen. Sie sind vor allem bedingt durch den Nährstoffmangel (auch bei Übergewicht und einseitiger Ernährung).
Auch die sozialen Auswirkungen können als sehr belastend empfunden werden. Von ARFID Betroffene sind häufig isoliert, da Essen ein großer sozialer Faktor ist und sie nur unter bestimmten Bedingungen und nur ihre eigenen sicheren Lebensmittel essen können. Einladungen, Feiern, Urlaube sind für die meisten eine große Herausforderung und für manche gar nicht zu bewältigen.
Autisten mit ARFID können in mehrfacher Hinsicht betroffen sein. Kontakte sind oft schwierig und Interaktionen, die mit Essen verbunden sind, können ihre Möglichkeiten noch mehr einschränken.

Depressionen und Angststörungen sind die häufigsten Komorbiditäten.

Je früher im Leben ARFID erkannt und behandelt wird, je eher verstanden wird, was das problematische Essverhalten auslöst, umso besser wird es Betroffenen gehen, wenn sie erwachsen sind. Bei der Behandlung von ARFID ist vor allem wichtig, den Subtyp genau zu identifizieren. Probleme mit der Textur oder dem Geschmack brauchen andere Ansätze als die Angst vor möglichen körperlichen Symptomen. Am schwierigsten zu behandeln ist wohl das mangelnde Interesse am Essen und die fehlenden körperlichen Signale, die Menschen normalerweise dazu veranlassen, zu essen.
Bevorzugte Therapiemethoden, vor allem für nicht autistische Patienten, sind Verhaltenstherapie und Konfrontationsmethoden, wie man sie bei Ängsten und Phobien anwendet.

Autismus macht die Therapien nicht leichter, denn autistische Wahrnehmung und autistische Routinen kann und soll man nicht wegtherapieren. Sie haben wichtige Funktionen. Sie helfen u.a., das hyperaktive Gehirn zu regulieren. Es braucht viel Geduld und Einfühlungsvermögen und es ist wichtig, dass Therapeuten und Angehörige die Möglichkeiten und Grenzen der autistischen Menschen achten und akzeptieren. Ein normales Essverhalten in neurotypischem Sinne ist für die wenigsten möglich- und muss auch nicht sein.

Leider gibt es gerade für ARFID im Erwachsenenalter nur wenige Spezialisten in Deutschland.

Auch hier kann ich nur auf die Eating Disorder Recovery Coaches oder Therapeuten in USA verweisen, die weltweit tätig sind. Eine Liste findet Ihr hier:

https://www.jenniferrollin.com/

https://www.carolyn-costin.com/

https://amyboyers.com/arfid-treatment-what-to-expect/

Rund um Ernährung, vor allem auch für autistische Kinder

https://www.jennyfriedmannutrition.com/