Immer wieder habe ich mich gefragt, wie es wohl sein könnte, wenn diese Welt eine „Autismuswelt“ wäre.

Über 50 Jahre lang habe ich, wann immer möglich, die Straßenseite gewechselt, wenn mir auf dem Gehweg eine Gruppe von Menschen entgegenkam. Nicht aus Angst vor deren Nähe, sondern weil ich nie wusste, wie genau ich mich verhalten sollte: stehenbleiben und warten, bis sie vorbeigelaufen sind oder doch besser mitten durchgehen. Oder vielleicht sogar auf die Fahrbahn ausweichen?
Hand geben war kein Problem, allerdings nur dann nicht, wenn der Händedruck meines Gegenübers auch tatsächlich ein Druck war. Meistens fühlte es sich eher an wie ein Schwamm, schlimmstenfalls auch wie ein nasser Schwamm.
Und was den Lärmpegel betrifft, muss ich glaube ich nicht erwähnen wie es ist, an vielen Tagen mit Gehörschutz in der eigenen Wohnung sitzen zu müssen und regelmäßige Shutdowns zu erleben, weil viele nicht autistische Menschen offensichtlich alles was laut ist genauso dringend brauchen, wie die Luft zum Atmen.

Vergangenheitsform. Denn dann kam Covid. Und mit Covid wurde diese Welt autistisch.

Hand geben? No-go!
Plötzlich ist es verboten, mit mehr als zwei Leuten unterwegs zu sein. Wagen es Menschen, eine Gruppe zu bilden, werden sie mit Bußgeld belegt. Die Straßen sind genauso leer wie die öffentlichen Verkehrsmittel und das, was mir den Job massiv erleichtert hätte, ist nun gängige Praxis: Einzelzimmer, Homeoffice und online Kommunikation.
Ok, das mit der Ruhe ist relativ. Es gibt immer noch ein paar unverbesserliche Nachbarn, die ihre Angst mit lauter Musik betäuben, buchstäblich. Aber draußen vor meinem Fenster ist der Lärm so viel erträglicher, dass ich sogar an sonnigen Tagen ohne Ohrstöpsel auf meinem Balkon sitzen kann. Ich wusste gar nicht, wie schön das ist. Na, und der Supermarkt ist inzwischen genauso leer, wie die Regale mit den Nudeln. Aber diesen Schwund nehme ich gerne in Kauf, wenn die Kassenschlange dafür keine Schlange mehr ist, sondern nur eine Summe von drei Leuten, die durch rote Linien und strenge Aufpasser gezwungen werden, zwei Meter Abstand zu mir zu halten.

Jetzt ist es nur so: Alles hat seinen Preis. Und dieser Preis ist hoch.

Für mich selbst halten sich die Probleme noch in Grenzen. Das, was ich zu tun habe, mache ich auch im „Normalbetrieb“ meist zuhause und dank Internet habe ich Zugriff auf alles, was ich brauche.
Meine Routinen sind beeinträchtigt, aber nicht so, dass ich erheblich darunter leide. Mit etwas Anpassung geht es und ich gehöre zum Glück zu den Autistinnen, die sich ganz gut flexibilisieren können, wenn es denn sein muss.

Was mir tatsächlich sehr fehlt, sind die persönlichen Kontakte. Womit wir bei einem Mythos wären, der bei dieser Gelegenheit gleich mal geradegerückt werden kann: Auch Autisten brauchen UND wollen zwischenmenschliche Kontakte. Die einen mehr, die anderen weniger, aber ganz ohne geht es den meisten von uns genauso schlecht, wie den neurotypischen Menschen.
Die Orte, an denen ich meine Bekannten regelmäßig sehen kann, haben geschlossen. Meine Eltern sind Hochrisikogruppe, meine liebsten Freunde sind in ihren Familien. Sie gehen nicht in Kontakt mit anderen, obwohl es durchaus erlaubt wäre, zum Beispiel zu zweit eine Runde spazieren zu gehen. Sie haben Angst vor Ansteckung. Natürlich. Aber Skype ersetzt keine Umarmung. Es wäre gelogen zu sagen: „Das macht mir nichts aus“, denn je länger ich hier allein hocke, umso schmerzhafter wird die persönliche Distanz.
Trotzdem ist es ganz gut, dass ich viel zu Hause bin und das nicht nur, wegen des Virus an sich. Meine Wahrnehmung ist wie ein Seismograf und meine Verarbeitung läuft im Schneckentempo. Eine ungünstigere Kombi kann es kaum geben. So ist die Stimmung der Menschen da draußen seit Wochen in mir, und es wird schlimmer, sobald ich einen Fuß vor die Türe setze. Oder mich auf Twitter verlaufe.

Aber was ist meines schon gegen das, was viele andere jetzt erleben müssen. Ich muss es nicht aufzählen, ihr wisst es alle.

Diese Situation zu erleben, macht mir sehr deutlich:

Man sollte gut aufpassen, was man sich wünscht, denn es ist selten so, wie man es sich vorstellt.
Viele äußeren Bedingungen sind jetzt so, dass ich mich als Autistin nicht mehr behindert fühlen muss. Aber ist es das wert? Nein.

Nicht immer liegt alles nur in der Perspektive des Betrachters.
Gesamt gesehen gibt es in dieser Lage ausschließlich eine Perspektive, und die ist kritisch. Etwas anderes zu behaupten, wäre blanke Ironie. Ob und wie gut man es dann schafft, sich individuell auf positive Aspekte zu fokussieren, ist vermutlich abhängig von der persönlichen und der eigenen wirtschaftlichen Stabilität, der Resilienz und der Beständigkeit seiner sozialen Verbundenheit.

Autisten und nicht-Autisten sollte nicht mehr zwischen zwei Welten unterscheiden.
Wir Autisten sprechen vom „Wrong Planet“, von dem Gefühl, dass wir auf dem falschen Planten leben. Und ich frage mich gerade: Sollten wir auch weiterhin künstlich unterscheiden zwischen einer neurotypischen und einer autistischen Welt?
Ich glaube nicht. Denn diese Krise wird dauern, und sie kann nur bewältigt werden, wenn anders sein nicht mehr behindert. Wenn nur noch zählt, wie wir miteinander umgehen und zueinanderstehen, wie wir unsere Stärken bündeln und es schaffen, sie füreinander einzusetzen.

Es wäre schön, wenn „[…]  die Menschen erkennen, dass wir nur dann alle glücklich und in Frieden und Freiheit leben können, wenn wir zusammenhalten. Dass Macht und Eigensinn keinen Platz mehr haben in dieser heutigen Welt – weil man damit nicht mehr durchkommt. Dass niemand besser ist als der andere und jeder denselben Wert hat. Wir sitzen alle im selben Boot – wir sind doch alle Menschen.“ (Christine Preißmann)