Man geht mit irgendwelchen körperlichen oder psychischen Beschwerden zum Arzt und schon hat das Leiden einen Namen. Meistens bekommt man eine Diagnose, ob man nun will oder nicht.
Erwachsene Autisten haben oft nicht nur eine Zuschreibung aus der ICD F Gruppe in Ihren Akten. F für „Psychische und Verhaltensstörungen“.

Was aber, wenn man sich selbst nicht wiederfindet in einem dieser F´s?

Was, wenn sich Borderline, schizoide Persönlichkeitsstörung, Essstörung, sonstige Störung nicht mal im Ansatz richtig anfühlen?

Was, wenn man vor seinem Psychotherapeuten sitzt und einfach nicht weiß, worüber man reden könnte und was er meint, mit dem, was er so sagt?

Dann gibt man entweder auf oder man hat Glück und trifft auf jemanden, der den richtigen Hinweis gibt. Oder man fragt das Internet. Man tippt ein, wie man sich fühlt und landet bei Autismus.
Plötzlich hat man eine Situation, die ziemlich selten ist: Man darf selbst entscheiden, ob man eine Diagnose will oder nicht.

Jetzt ist guter Rat teuer. Vielleicht seid Ihr gerade an genau diesem Punkt, wenn Ihr diesen Artikel lest. Ich kann Euch die Entscheidung leider nicht abnehmen, aber ich versuche eine kleine Hilfestellung.

Die „Dr. Google Selbstdiagnose“ ist tatsächlich für die meisten Erwachsenen der erste Schritt. Mangels Alternativen, denn gerade hochfunktional Erwachsene laufen unter dem Radar. Aber diese Selbsttestung ist mit Vorsicht zu betrachten. Zum einen informiert man sich immer mit einem subjektiven Filter. Man sucht in der Regel so, dass das, was man findet, die eigene Sicht bestätigt. Zum anderen ist es nicht leicht, herauszufiltern, welche Infos stimmen und welche nicht. Man sollte sich auskennen mit Quellen und Recherche, um Wissen, Halbwissen und Quatsch auseinanderhalten zu können. Je mehr man sich wiederfindet in den Beschreibungen, umso eher fängt man an, sich mit Autismus zu identifizieren. So vieles scheint zu passen. Man tauscht sich in Foren aus, findet eine Community, die eine ähnliche Wahrnehmung teilt, man könnte sich endlich zugehörig fühlen. Aber immer noch hat man das „V“ für Verdacht davor. Immer noch ist da die Unsicherheit und etwas, das trennt, weil der offizielle Stempel fehlt.

Und dann stellt man sich die Frage: „Diagnose, soll ich oder soll ich nicht?“

Welche Vorteile könnte so ein offizieller Befund  haben?

Eine fundierte Diagnose kann ein großer Benefit sein für Euch selbst. Sie hilft Euch, Euch besser kennen zu lernen, Euch und Euren Lebensweg zu verstehen und einzuordnen und nicht zuletzt, Selbstfürsorglicher zu sein.

Ihr werdet Euch besser erklären- und verständlich machen können.

Ihr dürft aufhören, Euch ständig anzupassen.

Ihr dürft aufräumen mit möglicherweise falschen Annahmen über Euch und könnt beweisen, dass Eure Selbstwahrnehmung richtig war. Ich fand das sehr entlastend.

Vielleicht habt Ihr Euch lange durch Therapien gequält, die Euch verordnet oder nahegelegt wurden. Die dürft ihr jetzt begründet beenden oder in die richtige Richtung umleiten, sofern Eure Therapeuten sich mit Autismus auskennen und/oder sich auf Eure besonderen Bedürfnisse einlassen.

Es gelingt Euch hoffentlich auch besser, herauszufinden, welche Menschen zu Euch passen und welche nicht. Und Ihr gehört offiziell, und für viele endlich mal, zu einer Gemeinschaft, nämlich zu der der Autisten.

Ein weiterer wichtiger Punkt sind öffentliche Hilfen.

Eingliederungshilfe, Schwerbehindertenausgleich, Renten, Nachteilsausgleiche in Studium und Job u.a. gibt es nicht ohne bestätigte Diagnose.

Ein Befundbericht ist zwar keine Garantie für einen positiven Leistungsbescheid, denn hochfunktionaler Autismus bei Erwachsenen wird immer noch viel zu oft viel zu wenig ernst genommen. Aber die Chancen stehen wesentlich besser als bei einem Eigenverdacht.

Was könnte gegen eine Diagnose sprechen:

Nicht alle haben Zugang zu Spezialzentren und zu Leistungen der Krankenkassen. Es ist teuer, eine aufwändige und fundierte Diagnose selbst zahlen zu müssen. Manchmal bieten Psychologen Diagnostik an, aber deren Berichte werden oft nicht anerkannt.

Andere, deren Krankenkassen das Prozedere bezahlen, warten oft länger als ein Jahr auf einen freien Platz, um von einem Facharzt untersucht zu werden, der sich auf Autismus bei Erwachsenen spezialisiert hat und ausreichend erfahren ist.

Diese langen Wartezeiten können emotional sehr anstrengend sein und verunsichern. Ihr wisst vielleicht in dieser Phase eine Zeit lang erst recht nicht, wohin Ihr gehört. Ihr seid möglicherweise blockiert für weitere Behandlungen. Ihr könnt noch keine Leistungen beantragen und laufende Therapien werden nicht selten von den Therapeuten selbst beendet, da sie sich nicht ausreichend mit Autismus auskennen und den Therapieplatz für Patienten frei machen wollen, die Ihrem Leistungsspektrum entsprechen. So kann es passieren, dass Ihr ausgerechnet in dieser schwierigen Zeit kein unterstützendes Netz habt.

Die Diagnostik selbst ist ein sehr aufwändiger Prozess. Sie verlangt, dass Ihr Euer Leben von Kind an aufrollt und teilweise in Einzelheiten erzählt. Das liegt daran, dass Autismus nur in Frage kommt, wenn sich schon in der frühen Kindheit entsprechende Auffälligkeiten gezeigt haben. Wer schwierige Zeiten erlebt hat und eventuell sogar traumatisiert ist, kann in eine nicht zu unterschätzende Krise geraten. Dazu kommt, dass es Diagnostiker gibt, die Autismus nicht bestätigen, wenn keine Fremdanamnese möglich ist. Wenn Ihr also keine Eltern oder andere Angehörige mehr habt, die Euch aus Eurer Kindheit kennen, gibt es allenfalls einen Verdachtsbefund. Damit habt Ihr nichts gewonnen, denn den Verdacht hattet Ihr ja schon selbst.

Hochfunktionale Erwachsene sind so geübt darin, sich neurotypisch zu verhalten, dass sie es oft selbst während der diagnostischen Tests tun. Masking lässt sich selbst dann nicht einfach so unterdrücken, wenn man es sich vornimmt. Wir kennen das alle. Auch Spezialisten gelingt es keinesfalls immer, die Masken zu enttarnen. Außerdem sind Ärzte auch nur Menschen, die durch eigene Erfahrungs- und Erwartungsbrillen schauen und deshalb vielleicht nicht das sehen, was Ihr bei Euch selbst seht.

Es kann also passieren, dass Autismus nicht verifiziert wird und Ihr eine andere Diagnose bekommt oder aber eine bereits Bestehende bestätigt wird. Die lange Wartezeit, die Identifikation mit Autismus und trotzdem eine Verneinung Eures Verdachts kann eine heftige Identitätskrise auslösen. Außerdem habt Ihr dann viel Zeit und eventuell auch Geld verloren. Wenn Ihr also eine offizielle Diagnostik anstrebt, behaltet bitte im Hinterkopf, dass sie auch negativ ausfallen könnte. Beschäftigt Euch damit, was das mit Euch machen wird, wie und ob Ihr damit zurechtkommen werdet und wer für Euch da ist und diesen Weg mit Euch gehen kann.

Bekommt Ihr Euren Autismus tatsächlich bestätigt, ist auch nicht einfach alles gut. Es beginnt die Aufarbeitung. Manche haben dabei viel zu betrauern: Versäumte Gelegenheiten, Entscheidungen, die nicht allzu förderlich waren, Zwischenmenschliches, das hätte besser laufen können, u.v.a. Und die Tatsache, dass ASS nicht heilbar ist, wird so manch einem auch erst dann richtig bewusst.

Auch bürokratisch kann Autismus einige nicht zu unterschätzenden Nachteile haben:

Versicherungen:

 Eure Daten werden überall da gespeichert, wo Ihr Leistungen verlangt, in jedem Fall bei Ärzten, Krankenversicherungen und Behörden.

Krankenversicherungen erfahren von der Diagnose, wenn sie dafür oder für Therapien zahlen (sollen). Nicht jeder arbeitet im Angestelltenverhältnis und ist gesetzlich versichert. Nachdem Autismus das Risikoprofil einer privaten KV erhöht, kann es passieren, dass Euer Tarif anders eingestuft wird und Ihr mehr Beitrag oder Zuzahlung leisten müsst.

In andere Versicherungen/Zusatzversicherungen werdet Ihr vielleicht gar nicht mehr aufgenommen.

Psychotherapie wird oft nicht oder nicht länger genehmigt, weil die Meinung besteht, dass autistische Eigenschaften, dass autistische Verhaltensweisen bei Erwachsenen nicht beeinflussbar sind. Das mag in gewisser Weise sogar stimmten, versagt Autisten aber die Chance, dass sich Komorbiditäten wie Depressionen u.a. bessern.

Eine Anstellung v.a. bei öffentlichen aber auch bei freien Arbeitgebern kann schwierig oder unmöglich werden, trotz Gleichstellungsgesetz. Firmen finden Lücken in jedem Gesetz, wenn es zu deren Vorteil ist.

Wer eine Verbeamtung anstrebt und deshalb zum Gesundheitsamt muss, muss wahre Angaben machen. Autismus kann hier mindestens eine große Hürde sein.

Wenn Ihr Kinder habt und in Trennung lebt oder eine Trennung anstrebt, kann eine Sorgerechtsentscheidung zu Ungunsten des autistischen Partners ausfallen.

Zu guter Letzte: Manche Autisten werden nach der Diagnose weniger ernst genommen als vorher. Beschwerden werden schneller als psychosomatisch eingestuft, vor allem da wir tendenziell andere Körperreaktionen und Empfindungen haben. Manche Menschen sprechen vielleicht mit Euch, als wärt Ihr noch Kinder. Das erlebe ich selbst leider immer wieder und finde es regelrecht entwürdigend.

Was ist, wenn man keine Diagnose will? Kann man verhindern, dazu gezwungen zu werden?

Ihr seid erwachsen und selbstbestimmt. Wenn Ihr nicht selbst- oder fremdgefährdend seid, dürft Ihr einen Diagnoseprozess verweigern. Wenn Ihr Euch absichern wollt, macht eine Patientenverfügung (PatV. Psychiatrie).

Fazit:

Die Entscheidung für oder gegen eine Diagnose sollte gut überlegt sein. Manchmal kann keine Diagnose oder sogar eine andere Diagnose vorteilhafter sein.

Betrachtet immer Eure Gesamtsituation, Eure psychische Stabilität und Eure nahen und fernen Ziele. Informiert Euch besonders gut über Eure berufliche Situation und darüber, was eine Autismus Diagnose hier positiv oder negativ verändern könnte. In vielen Firmen gibt es Schwerbehindertenbeauftragte, die auch Schweigepflicht haben. Vielleicht lohnt sich auch ein Gespräch beim VDK, das ist für Mitglieder oft kostenfrei. Auch Autismus Zentren haben in der Regel Ansprechpartner rund um diese Themen, können rechtliche Auskunft geben oder zumindest von Erfahrungen berichten.

Egal, ob Ihr einen offiziellen Diagnostikprozess anstrebt oder nicht und was dabei herauskommt: Vertraut auf Eure Intuition. Keine Diagnose zu haben heißt nicht, dass Ihr als Menschen mit Euren Emotionen, Stärken und den Schwierigkeiten, die Ihr möglicherweise habt, weniger ernst zu nehmen seid. Andersrum bedeutet eine bestätigte Diagnose nicht, dass Ihr aufhören solltet, Euch zu entwickeln und stets an Euch zu arbeiten.

Eure Identität ist nicht festgeschrieben, schon gar nicht durch den Buchstaben „ICD-F“. Identität ist ein Entwicklungsprozess, den jeder für sich selbst positiv beeinflussen kann, egal ob mit oder ohne Diagnose.