Schneller, höher, weiter, mein Haus, mein Boot, mein Essen. Die meisten Menschen tendieren vermutlich eher zu „zu viel“ als zu „zu wenig“. Nicht so diejenigen mit einer Anorexie. Die Tendenz zu „zu wenig“ kennen nahezu alle, die diese Krankheit haben oder hatten. Sie erwähnen es auch ständig, z.B. bei Ärzten und in Therapien, doch muss man sich sehr gut auskennen mit dieser Erkrankung und entsprechend genau hinhören, um dieses Phänomen zu erkennen und vor allem richtig zu deuten.

Leider bekommen Betroffene dafür fast ausschließlich Erklärungen, wie: „Das ist so, weil du Dir nichts gönnen magst“ oder „du bist es Dir nicht wert“. Das hören sie so oft, bis sie es selbst glauben. Mangels Alternativen, weil der Selbstwert eh schwächelt, und weil es ja irgendwie Sinn macht. Aber eben nur irgendwie. Denn fragt man genauer nach, versteht man schnell, dass psycho- logisch hier nicht logisch ist und nicht im Ansatz den Kern des Problems trifft.

Doch wie kann man jemandem, der diese Krankheit nicht kennt, erklären, dass man eigentlich weiß, wieviel genug ist, und trotzdem schafft man es nicht, sich daran zu halten. Es ist es so als wäre da eine unsichtbare Macht, die einem stets zum Weniger zieht. Ich spreche hier keinesfalls nur von Essens- oder Trinkmengen, obwohl es sich hier besonders bemerkbar macht. Man weiß genau, wieviel Gramm Nudeln eine Portion hat, das wandelnde Ernährungslexikon im AN- Hirn ist schließlich lebenslang abrufbar, ob man will oder nicht. Man möchte sogar genug essen, schließlich hat man gelernt, dass die Gesundheit davon abhängt. Trotzdem bleibt man wenigstens ein halbes Gramm unter dem Soll, wohingegen ein halbes Gramm drüber lange Zeit fast nur mit Hilfe von außen zu schaffen ist. Oder mit sehr, sehr viel Übung und Überwindung. Und warum sollte man Kelloggs Cornflakes kaufen, wenn es auch den billigen Aldi-Verschnitt davon gibt? Warum neue Klamotten, Second Hand ist doch billiger. Hose in Größe 38? Auf keinen Fall, lieber in 36 reinquetschen. Hauptsache die kleinere Zahl. Und das ist nicht immer nur wegen dem Bodyimage! Und das, was man wiegt, kann natürlich niemals zu wenig sein. In der akuten AN Phase ist das ein Symptom. Doch warum bleibt es, obwohl man heilen will, geheilt ist und genau weiß, wie sehr man darauf achten muss, dass die Nummer auf dem Teil unter seinen Füßen nicht in den Abwärtstrend fällt? Ein guter Grund, die Waage aus dem Haushalt zu verbannen, by the way. Ferienwohnung statt Hotel, weil billiger. Aufräumen statt Badewanne, relaxen ist Zeitverschwendung. Beispiele für die Tendenz zu „zu wenig“ gibt es zuhauf.

 Sich so zu verhalten, ist meiner Erfahrung nach kein psychopathologisches Muster, hat nichts zu tun mit Selbstwert, ist keine Frage des Gönnens und kein Ausdruck eines Persönlichkeitsmerkmales. Es muss etwas Biologisches sein. Warum sonst kennt jede AN diesen Mechanismus? Welche psychologischen Gründe sollte es haben, dass man mit dieser Krankheit nicht einmal in der Lage ist, sein Haustier zu füttern, ohne Küchenwage? Und warum betrifft das auch die Geheilten noch lange Zeit, die keine Angst mehr haben vor Kalorien und Gewicht? Macht keinen Sinn.

Vermutlich muss man in der Biologie der AN suchen und nicht in der Psychodynamik. In den Belohnungsbereichen des Gehirns, die, einmal verstellt, „zu wenig“ für lange Zeit und bei manchen vielleicht sogar für immer belohnender finden als „zu viel“. In nahezu jedem Lebensbereich.

Doch es ist erst einmal nicht so wichtig, woraus dieser Trend resultiert.

Wichtig ist, das Problem zu erkennen, und es nicht falsch zu deuten. Mit Gesprächstherapie bekommt man das nicht weg. „Zu wenig“ ist einer der größten Rückfalltrigger, vor allem der Bereich, der das Essen betrifft. Patienten brauchen lange Unterstützung und hilfreiche Tools jenseits der gefährlichen Waagen und Kalorienangaben, um die für sie richtige Menge sicher einschätzen zu lernen. Da sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt.

Sie müssen auch in anderen Bereichen des Lebens üben, diese Tendenz aufzulösen. Opposite- Actions sind auch hier die Methode der Wahl. Nicht die billigen Sachen kaufen, die kleinen Dinge wählen, in die hintere Reihe setzten, die anderen vorlassen, sondern das Gegenteil. Das muss immer und immer wieder praktiziert werden, bis das Gehirn lernt, dass es auch einmal mehr sein darf. Ob das dann jemals belohnend sein kann, bleibt dahingestellt, ist aber weder für die Heilung einer AN noch für den Erhalt einer stabilen Remission ausschlaggebend. Die AN wird leiser, wenn der Mut zum Leben die Tendenz zu „zu wenig“ verdrängt.